Kopf & PsycheNeurologische Krankheiten

„ADHS ist nichts, wofür man sich schämen muss“

anton lecock 68NR3c1rjYs unsplash

Vergesslichkeit, Hyperaktivität und Impulsivität – rund 5 Prozent aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland haben die Aufmerksamkeitsstörung ADHS. Tanja Mittwalder hat eine Tochter und einen Sohn. Beide bekamen die Diagnose. Im Interview erzählt sie, warum es so wichtig ist, dem Kind einen Namen zu geben und offen mit der Erkrankung umzugehen.

Was ist ADHS?

ADHS steht für Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung und macht sich durch Unaufmerksamkeit, Vergesslichkeit, Hyperaktivität, Zerstreutheit und Impulsivität bemerkbar. Ursächlich soll eine neurobiologische Funktionsstörung sein, wodurch Reize und Impulse schlecht gefiltert werden können.

Wann kamen die das erste Mal mit der Erkrankung in Berührung?

Meinem Mann und mir ist schon recht früh aufgefallen, dass unser Sohn Leon* hibbelig war. Schon als kleiner Junge war er teilweise sehr impulsiv, konnte nicht stillsitzen, sich nicht konzentrieren. Er fiel häufig hin und schlief nachts sehr schlecht. Er ließ sich immer leicht ablenken, konnte sich selten ins Spielen vertiefen. Leon war einfach immer unser kleiner Zappelphilipp. An eine Krankheit haben wir nie gedacht.

Wann änderte sich das?

Als uns seine Kindergärtnerin ans Herz legte mit Leon ins SPZ (Anm. d. Red.: Sozialpädiatrisches Zentrum) zu gehen, da sie bei ihm ADHS vermutete.

Wie haben Sie darauf reagiert?

Ich war im ersten Moment sprachlos und auch wütend – mein Sohn war doch wie alle anderen Kinder. Ich habe mich im ersten Moment auch persönlich angegriffen gefühlt. Wenn man so etwas hört, hat man das Gefühl etwas falsch gemacht zu haben.

Sind Sie zum SPZ gegangen?

Wir haben uns entschieden zuerst mit unserer Kinderärztin zu sprechen. Sie nahm sich viel Zeit und hörte uns zu. Danach kam sie zu dem Entschluss, dass man es abklären lassen sollte.

Wie ging es weiter?

Erst einmal gar nicht. Wir wollten Leon nicht in eine Schublade stecken und hofften, dass sich das noch verwächst. In der Schule kam das Thema dann jedoch wieder auf.

Inwiefern?

Bereits in der ersten Klasse bat uns die Klassenlehrerin zu einem persönlichen Gespräch, in dem sie uns mitteilte, dass Leon anders ist als seine Mitschüler. Er konnte sich schwer konzentrieren, ließ vermehrt Unterrichtsmaterialen fallen und störte den Unterricht. Leon wurde immer mehr zum Außenseiter und von Tag zu Tag unglücklicher. Sie bat uns das abklären zu lassen.

Wie haben Sie dieses Mal reagiert?

Und wurde klar, dass wir handeln müssen und es nicht weiter verdrängen konnten – zum Wohle unseres Kindes. Wir gingen zur Kinder- und Jugendpsychiatrie des MVZ (Anm. d. Red.: medizinisches Versorgungszentrum) bei uns um die Ecke und bekamen zum Glück zeitnah einen Termin. Leon musste es paar Tests machen und es gab Gespräche.

Und dann kam die Diagnose?

Ja, die Diagnose kam dann recht schnell. Rund zwei Monate nach dem ersten MVZ-Termin hatten wir es schwarz auf weiß, dass unser Sohn ADHS hat.

Wie haben Sie es aufgenommen?

Ich habe mich ehrlich gesagt geschämt. Oft war ich sehr ungerecht zu Leon, weil ich einfach wollte, dass er so ist wie die anderen Kinder. Ich wollte, dass er glücklich ist. Wir haben die Diagnose dann als Chance für einen Neustart gesehen.

Wie hat Leon auf die Diagnose reagiert?

Er war erleichtert und sagte: „Dann bin ich gar nicht Schuld daran, dass ich anders bin?“ Dieser Satz brach mir fast das Herz. Die Diagnose machte Leon stärker. Er hat das angenommen und erkannt, dass es nicht schlimm ist.

Wie ging es dann weiter?

Leon geht nach wie vor einmal pro Woche zur Therapie. Alle zwei Wochen hat er zusätzlich noch eine Gruppenstunde mit anderen betroffenen Kindern – das stärkt ihn sehr. Daraus sind auch Freundschaften entstanden.

Wie geht es Leon heute?

Leon ist mittlerweile 11 Jahre alt und hat es – auch dank der Therapie – geschafft, die Erkrankung zu akzeptieren und sehr gut mit ihr zu Leben. Er ist ruhiger und kann sich selbst viel besser kontrollieren.

Auch ihre Tochter Marie* hat ADHS. Wie kam es bei ihr zur Diagnose?

Bereits im Alter von sechs Jahren wurden bei Marie ADHS diagnostiziert. Wir kannten ja bereits die Symptome und da es sich wie bei Leon wiederholte, handelten wir bei Marie schneller.

Wie gehen Sie nach außen mit der Erkrankung Ihrer Kinder um?

Sehr offen. Wir haben im Laufe der Jahre gelernt, dass es wichtig ist darüber zu sprechen. Sowohl mit Bekannten und Freunden, als auch mit Lehrern und Trainern der Sportclubs, in die meine Mädchen gehen. ADHS ist nichts, wofür man sich schämen muss – das mussten mein Mann und ich aber auch erst lernen. Heute wissen wir auch, dass die Erkrankung auch positive Seiten hat. Kinder mit ADHS haben bewiesenermaßen eine höhere Einsatzbereitschaft, bessere Feinfühligkeit/Sensibilität, größere Emotionalität, sind ehrlich, begeusterungsfähig, spontan, voller Fantasien und Ideen. Wir sind sehr stolz auf unsere Kinder und hoffen, dass die Akzeptanz für die Erkrankung noch weiter steigt.

* Namen von der Redaktion geändert

Hinterlassen Sie eine Antwort

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Mehr über:Kopf & Psyche

0 %