Julia war gerade mal neun Jahre alt, als ihr Körper begann, ihr Grenzen zu setzen, die andere Kinder nicht kannten. Über Jahre wusste niemand, was mit ihr los war. Heute, drei Jahrzehnte später, blickt sie auf den langen Weg mit Schmerzen zurück.
Julia, du hast eine juvenile idiopathische Arthritis. Wann hast du gemerkt, dass etwas mit deinem Körper nicht stimmt?
Ich war neun Jahre alt und habe plötzlich beim Aufstehen aus dem Bett gemerkt, dass meine Knöchel sich anfühlten wie festgerostet. Es hat einfach alles wehgetan. In der Schule wurde es schlimmer. Mal waren die Handgelenke geschwollen, mal die Knie. Es zog sich über Wochen. Die Ärzte meinten zuerst, es sei Wachstumsschmerz oder psychosomatisch. Erst mit elf wurde die richtige Diagnose gestellt. Das hat unsere Familie sehr entlastet, aber gleichzeitig auch verunsichert.
Wie bist du als Kind damit umgegangen?
Ich habe vieles runtergeschluckt. Kinder können gemein sein. Es hieß, ich wäre faul, würde simulieren. Auch Lehrkräfte haben mir selten geglaubt, wenn ich gesagt habe, dass ich nicht schreiben kann vor Schmerzen. Ich wollte einfach nur dazugehören und habe angefangen, meine Symptome zu verstecken. Ich bin oft über meine Grenzen gegangen. Irgendwann war ich nicht mehr das Mädchen mit Rheuma, sondern die, die ständig schlechte Laune hat oder sich rausreden will. Das tat weh.
Gab es Menschen, die dich verstanden haben?
Ja, besonders meine Oma. Sie war selbst chronisch krank, hatte aber eine Art, alles mit Würde zu tragen. Wenn ich bei ihr war, durfte ich einfach sein. Später kam meine Therapeutin dazu. Sie hat mir geholfen, ein neues Bild von mir selbst zu entwickeln. Ich dachte lange, ich sei zu sensibel, zu schwach, zu anstrengend. Aber sie hat mich angeschaut und gesagt: „Du erzählst mir hier von Schmerzen, Operationen und Verlusten, und trotzdem lachst du. Das ist nicht schwach. Das ist stark.“
Gab es irgendwann eine Phase der Besserung?
Ja, tatsächlich. Mit etwa 14 Jahren war ich plötzlich beschwerdefrei: keine Schübe mehr, keine Schmerzen. Das hat fast sechs Jahre angehalten. In dieser Zeit habe ich fast vergessen, wie es ist, täglich mit Schmerzen aufzuwachen. Ich dachte damals, ich hätte das Kapitel Rheuma vielleicht ganz abgeschlossen.
Doch es kam anders …
Ja, leider. Mit Anfang 20 kehrten die Schmerzen zurück, aber anders. Es war nicht mehr das klassische Bild meiner kindlichen Arthritis. Die Beschwerden waren diffuser, sie betrafen mehr Gelenke gleichzeitig, manchmal wandernd. Ich war ständig erschöpft, mein ganzer Körper fühlte sich an wie Blei. Nach vielen Untersuchungen stand fest: Die juvenile Arthritis hatte sich zwar zurückgezogen, aber das Rheuma war in Form einer seronegativen rheumatoiden Arthritis wieder da. Eine neue Diagnose, ein neuer Umgang damit. Es fühlte sich an, als würde ich von vorne anfangen. Nur dass ich diesmal erwachsen war – mit anderen Herausforderungen, anderen Ängsten.
Wie hat sich deine Krankheit auf dein Liebesleben ausgewirkt?
Ich war früh sehr vorsichtig, habe kaum jemandem von meiner Krankheit erzählt. Meine erste längere Beziehung scheiterte auch daran. Ich wollte stark wirken, habe aber innerlich gekämpft. Als es dann in einer akuten Phase zu einem Krankenhausaufenthalt kam, war er völlig überfordert. Ich habe gelernt: Ich muss meine Karten von Anfang an offen auf den Tisch legen. Wer mich wirklich will, akzeptiert auch meine Krankheit.
Und gab es diesen Menschen irgendwann?
Ja. 2015 habe ich Tobias kennengelernt. Er kam über eine gemeinsame Freundin in mein Leben und ist geblieben. Ich habe ihm sehr früh von der Krankheit erzählt. Und er hat nicht einmal gezuckt. Bei unserem ersten gemeinsamen Urlaub – damals in Irland – habe ich einen fiesen Schub bekommen. Wir mussten mehrere Tage im Hotel bleiben. Ich habe gedacht: Das war’s. Aber er hat Suppe gekocht, Serien mit mir geschaut und einfach gesagt: „Solche Tage gibt’s. Dann holen wir das Wandern halt nächstes Mal nach.“ Da wusste ich: Der bleibt.
Ihr habt auch ein Kind zusammen bekommen. Wie war das?
Es war nicht geplant, aber sehr gewünscht. Die Ärzte hatten mir früh gesagt, dass meine Fruchtbarkeit eingeschränkt sein könnte. Als ich die Schwangerschaft entdeckte, war ich schon in der neunten Woche. Ich hatte Tränen in den Augen, aber auch viele Ängste. Wie soll ich das schaffen? Was, wenn ich mein Kind nicht tragen, nicht mit ihm toben kann? Aber Tobi hat mich bestärkt. Und ich habe eine wunderbare Rheumatologin gefunden, die mich in der Schwangerschaft eng begleitet hat.
Wie ist euer Alltag mit Kind heute?
Anstrengend, aber erfüllend. Unsere Tochter Lina ist jetzt fünf. Sie kennt mich nur mit der Krankheit. Sie fragt oft, warum Mama nicht so schnell ist wie Papa oder warum ich ihr nicht immer vorlesen kann. Ich erkläre ihr, dass meine Gelenke manchmal Pause brauchen. Und dass es nichts mit ihr zu tun hat. Ich glaube, Kinder spüren das sehr genau. Was sie aber auch sieht: Ich bin da. Ich höre zu. Ich kann mit ihr lachen. Ich bin nicht perfekt, aber ich bin ihre Mama.
Was gibt dir heute Kraft?
Rituale. Ich habe mein eigenes kleines Morgenprogramm: 20 Minuten Dehnen, Tee trinken, kurze Meditation. Und Musik. Immer Musik. Und natürlich Lina. Wenn ich ihren kleinen Arm um meinen Hals spüre, weiß ich, wofür ich kämpfe. Auch meine Arbeit tut mir gut. Ich habe eine 50-Prozent-Stelle in einem medizinischen Verlag und kann flexibel arbeiten. Mein Chef weiß Bescheid und unterstützt mich. Das ist nicht selbstverständlich.
Was wünschst du dir für die Zukunft – für dich und für andere Betroffene?
Ich wünsche mir mehr Sichtbarkeit für uns. Rheuma ist nicht nur eine Krankheit alter Menschen. Und nur weil man es nicht sieht, heißt das nicht, dass es nicht da ist. Ich wünsche mir auch, dass Schulen, Ärzte und Arbeitgeber mehr über uns wissen. Es braucht keine Sonderbehandlung, sondern Mitgefühl und Wissen. Und für mich? Ich wünsche mir noch viele gute Tage mit Lina, mit Tobias, mit mir selbst. Ich bin nicht nur Patientin. Ich bin auch Mama, Partnerin, Kollegin und Freundin.
Das Interview führte Leonie Zell