Tiergesundheit

„Wissen ist Tierschutz“

Tanja

Viele erfüllen sich den Wunsch nach einem Haustier, ohne vorher über Rasse, Herkunft, Gesundheit oder Kosten nachzudenken. Dann sitzt der Hund mit Atemnot, das Kaninchen mit Knochenbruch oder die Katze mit faulen Zähnen in der Praxis und alle fragen sich, wie es so weit kommen konnte. Dr. Tanja „Doc Polly“ Pollmüller sieht genau das täglich in ihrer Praxis. Sie ist Tierärztin und einem großen Publikum aus TV, Podcasts und Social Media vertraut. Im Gespräch erklärt sie, warum ein Termin beim Tierarzt vor der Anschaffung so wichtig ist, woran man Qualzucht und unseriöse Angebote erkennt, welche Vorsorge wirklich Sinn ergibt und weshalb Tierhaltung immer auch eine finanzielle und moralische Entscheidung ist.

Frau Dr. Pollmüller, Sie sagen, die Beratung in der Tierarztpraxis vor der Anschaffung eines Tieres ist extrem wichtig. Warum?

Die meisten Menschen holen sich ein Tier, ohne sich vorher vernünftig zu informieren. Sie haben ein Wunschbild im Kopf, aber kein klares Bild davon, was zu ihrem Leben passt. Und das fängt schon bei der Tierart an. Nehmen wir eine Familie mit Kindern im Alter von fünf, sechs Jahren. Klassiker: Hamster oder Kaninchen. Hamster sind nachtaktiv. Kleine Kinder schlafen idealerweise nachts. Das beißt sich total. Der Hamster wird tagsüber ständig aus dem Schlaf gerissen, das ist ungesund fürs Tier. Und wenn er nachts seine Party feiert, ist das ungesund fürs Kind. Kaninchen sind Fluchttiere. Die springen sehr hektisch und können sich in Panik mit einem einzigen Sprung sogar den Rücken brechen. Ich habe jedes Jahr mehrere Kaninchen mit gebrochenen Knochen durch Kinderhände. Da sieht man, wie früh Fehlentscheidungen anfangen.

Wenn die Tierart feststeht, kommt die Rassefrage. Was läuft da schief?

Die meisten entscheiden nach Optik. Der Hund soll süß aussehen und auf Fotos gut rüberkommen. Charakter, Aktivitätslevel, gesundheitliche Risiken kommen bei der Entscheidungsfindung oft gar nicht vor. Ein Beispiel: Jemand fährt jeden Sommer nach Südspanien in den Urlaub und nimmt den Hund mit. Ein Husky ist dann eine richtig schlechte Idee. Oder jemand wohnt in einer Stadtwohnung, ist unsportlich, sitzt viel auf dem Sofa und holt sich einen Border Collie. Border Collies sind Hütehunde. Die brauchen viel Bewegung und Denksport. Das sind keine Hunde, die nur so nebenher das Leben begleiten. Da muss der Mensch das Leben des Hundes begleiten. Wer das ignoriert, bekommt sehr leicht einen frustrierten Hund, der auffällig wird. Hinzu kommt das Thema Qualzuchten. Unser Kindchenschema springt auf kurze Schnauzen, große Kulleraugen und knautschige Gesichter an. Genau die Tiere haben aber oft massive gesundheitliche Probleme. Dazu gehören kurzschnäuzige Hunderassen, die unter Atemnot leiden, oder besondere Farbmutationen, die chic aussehen, aber mit Gendefekten einhergehen. Wir sehen Allergien, Wirbelsäulenschäden, schwere Erkrankungen und sehr viel Leid. Bei Katzen ist es ähnlich, und dieses ganze Paket landet am Ende bei uns in der Praxis auf dem Tisch.

Wie sieht das dann im Alltag bei Ihnen aus?

Teilweise sehr drastisch. Der Hund ist unausgelastet oder hat das Kind gebissen. Die Eltern haben keine Zeit für artgerechte Beschäftigung und stehen dann bei mir und wollen den Hund einschläfern lassen. Die Bulldogge bekommt kaum Luft. Im Sommer beim Spielen bricht sie zusammen, Hitzschlag, Notfall. Wir behandeln chronische Gelenkprobleme, Schmerzen, Augenentzündungen, Allergien. Und ich sitze da und denke: Das alles hätten wir mit einer guten Beratung vor der Anschaffung verhindern können, da jeder käufliche Erwerb weitere kranke Tiere nachrücken lässt.

Neben der Zucht gibt es noch das Thema unseriöse Herkunft. Was begegnet Ihnen da?

Da erlebe ich sehr viel. Viele holen sich einen „günstigen“ Hund über Kleinanzeigenportale. Oder sie fallen auf Mitleidsgeschichten rein, die extra so gestrickt sind wie zum Beispiel: „Unser Kind hat eine Allergie bekommen, wir müssen den kleinen Schäferhund dringend für 800 Euro abgeben.“ Da denkt man, man hilft der Familie. In Wahrheit läuft da eine Masche, denn der Hund kommt aus dem Ausland, illegal eingeführt, ohne vernünftigen Impfschutz. Nach drei Tagen bricht der Welpe mit Parvovirose zusammen. Das kostet Tausende und endet trotzdem oft tödlich. Der normale Tierhalter kann diese Fallen alle gar nicht kennen. Genau deshalb plädiere ich dafür, dass man vor der Anschaffung zum Tierarzt geht.

Wie kann man sich so einen Beratungstermin vorstellen?

Man vereinbart einen Termin beim Tierarzt und dann setzt man sich zusammen hin und redet. Ich frage zum Beispiel, wie die Menschen leben, ob sie in einer Wohnung oder in einem Haus wohnen, ob sie in der Stadt oder auf dem Land leben, wie viel Zeit sie täglich realistisch für Bewegung und Beschäftigung haben. Ich möchte wissen, wie oft sie im Urlaub sind, wohin sie fahren und wer sich dann um das Tier kümmert. Ich frage nach Kindern, nach gesundheitlichen Einschränkungen, nach Allergien. Dann sprechen wir über die passende Tierart, die passende Rasse und eine seriöse Bezugsquelle. Wir klären, woran man einen guten Züchter erkennt und wie man illegalen Welpenhandel meidet. Und wir machen einen groben Zukunftsplan. Also zum Beispiel, wie die Fütterung aussehen kann, welche Impfungen sinnvoll sind, wie man Parasitenkontrolle gestaltet und wie man das Tier richtig versichert. Wir besprechen Erziehungsfragen und einen Notfallplan mit einer Praxis oder Klinik, die nachts und am Wochenende aufhat. So entsteht eine Struktur, mit der Tierbesitzer gute Entscheidungen treffen können.

Viele Halter denken: „Ich gehe einmal im Jahr zur Impfung, das reicht.“ Wie sehen Sie das?

Das kann reichen, muss aber nicht. Wenn der Tierbesitzer gut informiert ist und das Tier jung und gesund ist, reicht in den meisten Fällen einmal pro Jahr. Je älter und je kränker das Tier ist, desto enger sollten die Abstände werden. Man kennt das von sich selbst, mit 20 geht man seltener zum Arzt als mit 40 oder mit 70 Jahren. Was aber leider sehr viele Halter unterschätzen: Tiere können nicht sagen „Mir geht es nicht gut“. Stellen Sie sich vor, Sie sind krank, aber man sieht es Ihnen nicht an. Sie dürften auch nicht darüber sprechen, und erst wenn Sie nicht mehr aufstehen wollen und nichts mehr essen, bringt man Sie zum Arzt. Das bedeutet tagelanges oder wochenlanges Leid, und genau das passiert bei Tieren ständig.

Tanja2

Doc Polly und ihre Hündin Ihre Hündin Heidi, die sie aus dem Versuchslabor gerettet hat

Was gehört für Sie zu einem guten Tierarztbesuch als Basisvorsorge, auch um dieses Tierleid zu vermeiden?

Hier appelliere ich zuerst an uns Tierärzte. Das fängt schon im Wartezimmer an. Wenn ich ein Tier aufrufe, beobachte ich, wie es aufsteht und in den Behandlungsraum läuft. Da sehe ich beispielsweise beim älteren Hund sofort Hinweise auf Arthrose. Dann braucht es einen strukturierten Vorbericht. Bei uns gehört zu jedem Termin, dass wir nach Fressen und Trinken, Kot- und Urinabsatz, Impf- und Entwurmungsstatus fragen. Wir lassen uns zeigen, was gegen Flöhe und Zecken gemacht wird, und wollen wissen, welches Futter in welcher Menge gegeben wird. Wir fragen nach Vorerkrankungen, Medikamenten und Veränderungen im Verhalten. Also ob das Tier schwerer aufsteht, ob die Katze noch auf die Fensterbank springt oder nur noch auf die Couch, ob es Anzeichen für Inkontinenz, Schwerhörigkeit, Demenz usw. gibt. Und wir fragen, ob Auslandsreisen geplant sind. Erst dann folgt die Untersuchung, und zwar immer am ganzen Tier, egal ob jemand nur wegen eines Pickels oder einer Beule kommt. Dazu gehört, dass Maul, Zähne und Zahnfleisch angeschaut werden, Kreislauf und Kapillarfüllungszeit geprüft werden, Augen, Ohren und Nase kontrolliert werden, Lymphknoten, Herz und Lunge, Bauch und Säugeleisten abgetastet werden. Hoden oder Vagina werden angeschaut, Fell- und Hautzustand und Parasitenbefall beurteilt, Krallen kontrolliert, Temperatur wird gemessen, Gewicht erfasst und der Chip geprüft. Diese Gründlichkeit sollte Standard sein, denn sie gibt Tieren eine Stimme.

Was können Tierhalter zu Hause regelmäßig selbst checken?

Eine Menge. Man braucht vor allem Aufmerksamkeit und Routine. Beim Kaninchen zum Beispiel empfehle ich, einmal pro Woche zu wiegen, die Schneidezähne anzuschauen, den Kiefer abzutasten und täglich den Popo zu kontrollieren. Wenn Kaninchen Durchfall oder eine Blasenentzündung haben, setzen sich Fliegen an. Innerhalb eines Tages können sich Maden in die Haut und ins Gewebe fressen. Ich muss jedes Jahr Kaninchen deswegen einschläfern, die buchstäblich von Maden am Hinterteil aufgefressen werden. Beim Hund und bei der Katze geht es darum, regelmäßig ins Maul zu schauen, Zähne zu kontrollieren und zu putzen, auf Maulgeruch zu achten, den Bewegungsablauf zu beobachten. Wie steht das Tier auf, wie springt es, wie lange läuft es gern? Man sollte das Gewicht im Blick behalten, Augen und Ohren anschauen und die Krallen nicht vergessen. Der Satz „Der frisst doch noch“ taugt nicht als Gesundheitskriterium. Ich habe Tiere auf dem Tisch, denen läuft der blanke Eiter aus dem Maul, und der Besitzer sagt: „Der frisst doch noch.“ Ja, klar, aber eben mit starken Schmerzen.

Ab wann empfehlen Sie eine Altersvorsorge?

Ab dem siebten Lebensjahr, je nach Rasse auch früher. Bei Katzen sehen wir sehr häufig Nieren- und Schilddrüsenerkrankungen. Beides begünstigt Bluthochdruck. Der fällt oft erst auf, wenn die Katze plötzlich blind ist, gegen Möbel läuft und riesige Pupillen hat. Da ist die Netzhaut dann schon abgelöst. Darum empfehle ich ab etwa sieben Jahren bei Katzen Blutdruckmessungen und Blutuntersuchungen, um unter anderem Niere, Leber und Schilddrüse zu kontrollieren. Wenn man möchte, kann man zusätzlich einen Bauchultraschall machen. Bei Hunden ist es ähnlich. Blutcheck, bei älteren Hunden gern auch Bauchultraschall. Viele alte Hunde haben Milztumoren. Das sind oft Senioren, die auf einmal zusammenbrechen, blasse Schleimhäute haben und als Notfall kommen, weil ein fußballgroßer Milztumor geplatzt ist. Hätten wir den vorher per Ultraschall entdeckt, hätten wir die Milz rechtzeitig entfernen können und der Hund hätte überlebt. Natürlich kann man sich auch kaputt suchen. Man kann alles untersuchen und trotzdem bricht der Hund zwei Monate später mit einem Knochentumor zusammen. Aber typische, häufige Krankheiten kann man früh erkennen und das Leben für den Vierbeiner deutlich angenehmer gestalten.

Viele scheuen die Tierarztkosten. Wie gehen Sie damit um?

Der Job des Tierarztes besteht jeden Tag darin, mit den finanziellen Möglichkeiten der Halter zu jonglieren und trotzdem das Beste für das Tier zu erreichen. Natürlich wäre es ideal, jede Narkose mit Monitor, Infusion, Wärmematte und allem Drum und Dran abzusichern. Aber wenn ich eine Katze vor mir habe, der der Eiter aus dem Maul läuft, und die Leute kaum Geld haben, dann mache ich eben eine abgespeckte Narkose und eine pragmatische Zahnsanierung. Hauptsache, das Tier hat weniger Schmerzen. Wichtig ist, dass Halter ehrlich mit uns reden. „Ich habe nicht so viel Geld, aber was können wir denn machen?“ Damit kann ich gut arbeiten. Was schwierig ist: gar nicht kommen, weil man Angst vor der Rechnung hat. Dann leidet das Tier und bezahlt das Nichtkommen im schlimmsten Fall sogar mit dem Leben.

Welche Rolle spielen Versicherungen und Rücklagen?

Eine riesengroße. Man kann eine Krankenversicherung abschließen oder nur eine OP-Versicherung wählen. Wichtig ist, genau zu wissen, was die Versicherung abdeckt. Eine Zeckenkrankheit mit Klinikaufenthalt, Bluttransfusion und intensiver Therapie kann mehrere Tausend Euro kosten. Das ist keine Operation. Eine reine OP-Versicherung zahlt dann nicht. Deshalb gehört das Thema Geld für mich schon in die Erstberatung vor der Anschaffung. Tiere halten ist eher wie Champagner trinken als wie Wasser aus dem Hahn. Das muss man sich bewusst machen, bevor ein Lebewesen einzieht.

Viele Eltern sagen zu ihren Kindern: „Du wolltest doch die Katze, jetzt kümmerst du dich.“ Wie sehen Sie das?

Das ist einfach unfair. Kinder können Verantwortung lernen, aber sie tragen sie nicht allein. Wer ein Tier anschafft, trifft als Erwachsener eine Entscheidung. Das Tier lebt zehn, 15 Jahre oder länger. Das ist kein Experiment für ein paar Wochen. Ich erlebe oft Eltern, die in meiner Praxis die Kinder vor mir maßregeln und sagen: „Hör mal, was Frau Doktor sagt, du wolltest doch das Kaninchen.“ Ich sage dann sehr klar: Die Verantwortung liegt bei den Erwachsenen. Ein Tier ist kein Geschenk für jemand anderen, auch nicht für die Kinder oder den Partner. Wer sich ein Tier ins Haus holt, muss es zu 100 Prozent selbst wollen und lieben.

Und wenn ein älterer Mensch zu Ihnen kommt und sich einen tierischen Begleiter wünscht?

Das finde ich eine großartige Idee, wenn es passt. Wir haben beispielsweise viele alte Tiere im Tierheim, die ein Zuhause suchen. Und wir haben viele ältere oder chronisch kranke Menschen, die nicht mehr gut zu Fuß sind. Da kann man wunderbare Kombinationen finden. Ich hatte einmal eine französische Bulldogge aus dem Tierheim mit neurologischen Störungen in Behandlung. Die konnte nur wenige Meter laufen, ist dann zusammengesackt, hatte aber keine Schmerzen und war ein freudiger Hund. Die hat über ein Jahr bei einer Freundin mit Fibromyalgie und starkem Übergewicht im Haus und Garten gelebt. Die beiden haben perfekt zusammengepasst. Für jede Lebenssituation gibt es das passende Tier.

Sie sind auf Instagram, in Ihrem Podcast, aber auch im TV sehr aktiv. Warum?

Weil ich es leid bin, immer erst zu helfen, wenn es fast zu spät ist. Ich will Aufklärung leisten, bevor Tiere leiden. In der Großtiermedizin gibt es Bestandsbetreuung. In der Kleintiermedizin fehlt das. Deshalb mache ich das, denn Wissen ist Tierschutz.

Mehr über „Doc Polly“ auf Instagram.

Das Interview führte Emma Howe

Lass einen Kommentar da

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Weitere Inhalte von:Tiergesundheit

0 %