Soziale Verantwortung

Haben wir Fürsorge verlernt?

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Susanne Mierau Autorin

Alle Menschen benötigen Fürsorge. Ohne Fürsorge können Kinder nicht groß werden, können Kranke nicht gesund werden, können ältere Menschen nicht alt werden. Fürsorge hält die Gesellschaft am Laufen. Die Bestsellerautorin Susanne Mierau beschreibt in ihrem neuen Buch, wie wichtig ein gutes Miteinander ist, und spricht im Interview darüber, was sich dringend ändern muss.

Ihr neues Buch heißt „Füreinander sorgen“. Wie kam es zu diesem Titel und wie definieren Sie Fürsorge?

Das Exposé hatte ich eigentlich unter der Überschrift „CaREvolution“ eingereicht. Aber mit dem Begriff „Fürsorge“ können wahrscheinlich mehr Menschen etwas anfangen. Ich finde allerdings, dass unsere Sprache nicht genug Worte für die Vielfalt des menschlichen Miteinanders und Umsorgens hat. Ich würde mich daher am liebsten der Definition von Joan Tronto und Bernice Fisher für den Begriff „Care“ anschließen: „Die Aktivität unserer Spezies, die alles umfasst, was wir tun, um die Welt zu erhalten, fortzuführen und wiederherzustellen, damit wir in ihr so gut wie möglich leben können.“

Warum wird Fürsorge als gesellschaftlicher Wert oft vernachlässigt? Haben wir Fürsorge verlernt?

Wir haben ein ganzes Sammelsurium von Problemen rund um die Fürsorge. Wir haben sowohl die bezahlte als auch die unbezahlte Sorgearbeit größtenteils in die Hände der weiblichen Bevölkerung gelegt – und zwar von der Kindheit bis zum Alter: Frauen sind in jedem Altersabschnitt mehr zuständig für alle Formen des Umsorgens. Dadurch sind diese – neben all den anderen Aufgaben unserer vollen Zeit – oft überlastet bis hin zum (Caregiver-)Burn-out. Gleichzeitig werden Jungen und Männer von der Tätigkeit des Umsorgens anderer eher ausgeschlossen und lernen auch das Konzept der Selbstsorge nicht so gut – was auch für sie negativ ist. Unser Blick ist fokussiert auf Leistung in Kombination mit hohem Gehalt und Karriere. Aber Sorgearbeit erfordert zwar enorme körperliche und emotionale Leistung, ist aber nicht in den klassischen wirtschaftlichen Arten zu messen. Wie man in Bezug auf Kinder sagt: Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht. Wir haben also Fürsorge teilweise verlernt, aber auch politisch enorm vernachlässigt.

Welche Folgen hat dies für unser gemeinsames Morgen?

Die Vernachlässigung und Abwertung von Sorgearbeit und zu wenig Sorgearbeit wirkt sich aber auch auf unser Menschsein aus: wie wir behandelt werden, unsere psychische und physische Gesundheit, auf das Aufwachsen der Kinder, die Werte bis hin zu unserer Demokratie. Und damit sieht es nicht gut aus, wenn wir das hohe Gut der Empathie und Sorge umeinander vernachlässigen.

Dieses Thema betrifft auch schon die Kleinsten in unserer Gesellschaft. Doch was passiert mit Kindern, die keine oder nur wenig Fürsorge kennen, die vernachlässigt werden?

Alle Kinder brauchen gute, sichere Bezugspersonen und stabile Rahmenbedingungen. Kindheit und die Erfahrungen, die wir darin machen, können sich auf das gesamte weitere Leben auswirken. Deswegen ist es wichtig, dass wir sowohl die familiäre als auch die institutionelle Versorgung von Kindern genau in den Blick nehmen und (finanziell) fördern.

Warum müssen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu einer neuen Haltung finden? Was muss sich verändern?

Insgesamt muss sich leider sehr, sehr viel ändern. Das würde hier auch den Rahmen sprengen. Anfangen müssen wir allerdings dringend. Auf persönlicher Ebene können wir das in unseren nahen Beziehungen mit mehr Wertschätzung und gegenseitiger Unterstützung. Auf politischer und wirtschaftlicher Ebene müssen wir sehr schnell Sorgebereiche mehr ausbauen, dem Fachkräftemangel begegnen und besser finanzieren.

Sie sagen: „Fürsorge ist das Garn, das die bunte Patchworkdecke unseres Lebens zusammenhält“, weil ohne gesellschaftliche Fürsorge die Menschheit schnell am Ende wäre, auch ohne Krisen, Kriege und Klimakollaps. Wie blicken Sie in die Zukunft?

Ich blicke leider keineswegs optimistisch in die Zukunft. Ich weigere mich allerdings, Rückschritte hinzunehmen und ausschließlich pessimistisch auf die Lage zu blicken, weil mir das die Kraft nehmen würde, mich für eine gesündere Gesellschaft einzusetzen.

Das Interview führte Leonie Zell

 

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