Seltene Erkrankungen

Der Prognose zum Trotz: „Marlene ist auf einem guten Weg“

Marlene hat Glutarazidurie Typ I

Als Marlene auf die Welt kommt, ahnt niemand, welch schweres Gepäck das Mädchen trägt. Eine Mittelohrentzündung bringt es sechs Monate später ans Licht: Marlene ist von der Stoffwechselkrankheit Glutarazidurie Typ I (GA-1) betroffen. Infekte, die für andere harmlos sind, lösen bei GA-1 Krisen aus, die zu motorischen Schäden bis hin zu schwersten Behinderungen führen können. Die Prognose ist finster. Doch mithilfe von Ärzten und Therapien und dank der Liebe und des unermüdlichen Einsatzes ihrer Familie, insbesondere ihrer Mutter Charlotte, erkämpft sich Marlene ihr Leben.

Bei einer Mittelohrentzündung zeigte sich, dass Marlene von Glutarazidurie Typ I betroffen ist – was passierte damals?

Als sie die Mittelohrentzündung bekam, war Marlene ein halbes Jahr alt. Im Grunde nichts Ungewöhnliches und auch nichts Schlimmes, aber mein Instinkt sagte mir, dass mehr dahintersteckt. Sie bekam Krampfanfälle und hatte ihre erste Krise, die das Gehirn schädigte. Das erfuhren wir, als die GA-1 bei Marlene diagnostiziert wurde. Leider wurden Neugeborene in der Schweiz bei ihrer Geburt noch nicht auf diese Stoffwechselkrankheit getestet. Das Screening wurde erst ein Jahr später eingeführt – für Marlene zu spät.

Die Krankheit ist sehr selten. Wurde sie bei Marlene gleich richtig diagnostiziert?

Ja. Zumindest dieses Glück hatten wir. Wegen der Krise waren wir mit Marlene im Kinderkrankenhaus in Zürich, dort gibt es Spezialisten für seltene Erkrankungen und Stoffwechselkrankheiten.

Würden Sie rückblickend sagen, dass Sie schon vor der ersten Krise Symptome bemerkt haben?

Marlene war groß, als sie zur Welt kam, aber nicht so groß, dass die Ärzte oder wir es ungewöhnlich fanden. Sie trank auch etwas langsamer – aber auch nicht so, dass es aufgefallen wäre. Das Screening auf GA-1 wäre die einzige Möglichkeit gewesen, Marlene schon im Vorfeld zu schützen. GA-1 ist eine vererbbare Stoffwechselkrankheit. Bei dieser Erkrankung kann es, ausgelöst durch einen Infekt, unbehandelt zu metabolen Krisen kommen, die nicht nur nach der Geburt zu verheerenden Schädigungen führen können, sondern bereits im Mutterleib. Diese Diagnose kann schwerste Konsequenzen haben. Sie ist für alle Beteiligten ein Schock.

Welche Untersuchungen fanden damals statt, bis Sie Klarheit hatten?

Ich erinnere mich nicht an alle Einzelheiten; es ging damals alles sehr schnell und es war viel, was auf uns einströmte. Als Marlene mit einem halben Jahr krank wurde, verschlechterte sich ihr Zustand rapide. Sie krampfte, wir wurden aber zunächst wieder nach Hause geschickt und sollten beobachten. Als Marlene das zweite Mal krampfte, ging es direkt vom Kinderarzt mit der Ambulanz ins Krankenhaus. Marlene bekam einen Zugang gelegt, um sie per Infusion zu ernähren; sie wurde noch in der Notaufnahme untersucht und dann sofort auf die Intensivstation gebracht. Eine Neurologin sagte damals zu mir, sie habe eine Vermutung. Diese Vermutung bestätigte sich. Mir wurde noch in der Nacht mitgeteilt, dass Marlene Glutarazidurie Typ I hat.

Im Prinzip ist die Diagnosestellung einfach; GA-1 lässt sich über den Urin oder auch das Blut diagnostizieren. Aber man braucht den richtigen Verdacht. Und das ist bei einer Erkrankung, die unter 120.000 Geburten einmal auftritt, nicht leicht.

Anfangs wurde uns gesagt, unsere Tochter würde motorisch nichts können – weder sitzen
noch den Kopf heben oder gehen.

Wie wurden Sie mit der Diagnose fertig?

Der Anfang war sehr, sehr schwer. Zunächst war es erschlagend. Uns wurde gesagt, unsere Tochter würde motorisch nichts mehr können – weder sitzen noch den Kopf heben oder gehen. Sie würde immer auf Hilfe angewiesen sein. Eine solche Nachricht zieht einem den Boden unter den Füßen weg. Ich kam allerdings gar nicht dazu, lange im Schock zu verharren, denn ich hatte mich um vieles zu kümmern. Die ganze Bürokratie, Anträge stellen, einen Pflegedienst organisieren, dafür sorgen, dass Marlenes Bruder, der nur zwei Jahre älter ist, gut versorgt war, wenn ich mit ihr ins Krankenhaus ging. Wir mussten ja in den ersten Jahren bei jedem Infekt schnellstmöglich in die Klinik. Mein Mann ist beruflich viel im Ausland, deswegen war das alles gar nicht so leicht zu koordinieren. Ich lernte, Marlene zu Hause zu versorgen, Sonden zu legen, Spezialnahrung zusammenzustellen, und lernte auch, was sie an normaler Nahrung essen darf und was nicht. Mein eigenes Leben, meine Berufstätigkeit lag wie auf Eis.

Bekamen Sie Hilfestellung?

Für diese Krankheit gibt es, obwohl sie so selten ist, ein Zentrum in Deutschland, in Heidelberg, und die Ärzte, die sich mit GA-1 auskennen, sind untereinander gut vernetzt, bis in die USA. Die Ärzte hier, Professor Baumgartner und sein Team, wussten, was zu tun ist. Ich bekam eine Broschüre mit Informationen in die Hand gedrückt, nahm Kontakt mit einer Selbsthilfegruppe in Deutschland auf. Die meisten Kinder im Alter unserer Tochter sind allerdings längst nicht so stark betroffen wie Marlene, weil sie die Diagnose bereits vor einer Krise bekommen hatten. In Deutschland gab es das GA-1-Screening ja bereits.

Marlene heuteWie geht es Marlene, wie geht es Ihnen heute?

Marlene hat sich sehr gut entwickelt, allen Prognosen zum Trotz, und es geht uns gut. Natürlich hat sie Einschränkungen und es gibt Hindernisse – Marlene ist jetzt zehn und stark gewachsen, für viele ihrer Hilfsmittel müssen wir neue Anträge stellen, weil sie ihr einfach nicht mehr passen. Aber es geht ihr heute viel besser, als wir direkt nach Diagnosestellung zu hoffen gewagt hätten.

Marlene ist sehr stark, sie hat eine große Ausdauer, von Anfang an. Sie besucht eine Sonderschule – und sie geht unglaublich gerne dorthin! Sie erhält auch begleitende Therapien und Förderungen und kommt erst nachmittags nach Hause, sodass ich mittlerweile wieder in Teilzeit in meinem Beruf arbeiten kann. Wir sind inzwischen in eine ebenerdige Wohnung umgezogen. Das erleichtert es Marlene enorm, sich mit ihrem E-Rollstuhl zu bewegen. Sie hat dadurch ein Stück Unabhängigkeit gewonnen. Auch haben wir gemeinsame Momente als Familie, die wunderbar sind. Mein Mann hat immer von einem Wohnmobil geträumt – wir haben uns diesen Traum erfüllt und nehmen uns kleine Auszeiten.

Großartig ist, dass Marlene mittlerweile ein bisschen sprechen kann. Sie kann sich mitteilen. Direkt nach der Diagnose hatte ich gedacht, Laufen sei das Allerwichtigste. Aber inzwischen weiß ich: Das ist es nicht. Das Wichtigste ist Kommunikation. Dass man ausdrücken kann, wie es einem geht, was man möchte, wie man sich fühlt, der Austausch mit anderen … da ist Marlene wirklich auf einem guten Weg.

Das Interview führte Miriam Rauh

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