Wenn man die Bevölkerung fragt, denkt man: Natürlich handeln Ärzte danach, ob man eine Frau oder einen Mann vor sich hat, das ist doch selbstverständlich – nein, das ist aktuell absolut nicht selbstverständlich.
Die Geschlechtersensible Medizin (GSM), auch als Gendermedizin bekannt, ist ein Fachgebiet der Medizin, das sich mit den Unterschieden zwischen Männern und Frauen in Bezug auf Gesundheit und Krankheit befasst. Experten der GSM untersuchen, wie sich zum Beispiel Geschlechtshormone, die Geschlechtsidentität und die Geschlechterrollen auf die Gesundheit und den Verlauf von Krankheiten auswirken. Sie entwickeln und evaluieren auch neue Therapien und Präventionsmaßnahmen für Frauen und Männer unter Berücksichtigung ihres Alters, ihrer Ethnizität und ihrer Lebenssituation.
Hier hat Deutschland Nachholbedarf. Die Kardiologie ist ein gutes Beispiel der Unterschiede. Nehmen Sie beispielsweise den Herzinfarkt. Es herrscht die Vorstellung, dass insbesondere Männer ab einem bestimmten Alter Herzinfarkte bekommen. Sogar Laien kennen die Symptome: ein Schmerz in der linken Brust, der in den linken Arm ausstrahlt. Nur: Auch Frauen bekommen Herzinfarkte, allerdings können bei ihnen die Symptome anders sein. Außerdem sind vor allem bei jüngeren Frauen die Infarkte besonders gefährlich. Das muss man als Mediziner wissen, um richtige Diagnosen stellen und richtig handeln zu können. Umgekehrt werden Männer viel seltener auf Osteoporose getestet; die Krankheit wird immer noch eher bei Frauen vermutet. Tatsächlich sind aber auch ältere Männer betroffen. Depressionen sind auch so ein Fall, bei dem die typischen Symptome weiblicher Patienten eher bekannt sind und erkannt werden – Traurigkeit, Lethargie und so weiter. Bei Männern kann aggressives Verhalten eine Depression anzeigen. Entwickelt man ein Medikament, ist es auch wichtig, Männer und Frauen differenziert zu betrachten: Die Körperzusammensetzung und der Stoffwechsel von Frauen und Männern sind unterschiedlich. Medikamente, die in einem männlichen Körper eine gute Wirkung zeigen, können bei Frauen nicht so gut wirken oder sogar unerwünschte Wirkungen hervorrufen.
Warum die medizinische Forschung, die Krankenversorgung und auch die medizinische Ausbildung so wenig auf die Geschlechtersensible Medizin ausgerichtet sind, hat unterschiedliche Gründe. Der Körper von Frauen verändert sich stärker als der von Männern, sie erleben kurz- und langfristig stärkere hormonelle Umstellungen. Das macht es schwieriger, Frauen in der medizinischen Forschung zu berücksichtigen, es gibt bei Studien viel mehr Faktoren zu beachten. Lange Zeit wurde deswegen auf männliche Probanden zurückgegriffen. Das ist einfach einfacher. Dann herrschte lange ein eingeschränkter Blick auf unseren Körper vor: Frauen wurden in der Medizin nur dann gesondert berücksichtigt, wenn es um die primären und sekundären Geschlechtsmerkmale ging. Der Rest wurde über einen männlichen Kamm geschoren. Lange wussten wir nicht einmal, wie weitreichend die Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Körpern oder gar Zellen überhaupt sind.
Abgesehen von der medizinischen Forschung und Versorgung müssen auch in anderen Bereichen die Unterschiede zwischen den Geschlechtern in den Blick genommen werden. Alle Disziplinen sollten sich mit der geschlechtersensiblen Denkweise beschäftigen und ihre Lehrenden schulen. Denn es braucht in jedem Forschungsbereich eine geschlechterspezifische Datenbasis, um Innovationen auf die Bedürfnisse aller Menschen abstimmen zu können. Natürlich ist die neue Generation auch anders erzogen und entwickelt sich weiter, aber die gläsernen Decken gibt es, und an die stößt man meistens erst dann, wenn man eine eigene Familie gründet und sein eigenes Geld verdient. Abschließend lässt sich feststellen, dass es noch keine echte Parität gibt. Aber Schritte in die richtige Richtung sind gemacht und zeigen einen Weg in eine gerechtere Zukunft auf.
Diesen Artikel hat Prof. Dr. med. Ute Seeland geschrieben