Interview mit Holger George über Hämophilie und Empowerment
Herr George, vielen Dank, dass Sie Ihre Geschichte mit uns teilen. Können Sie uns zunächst erzählen, wie und wann bei Ihnen Hämophilie diagnostiziert wurde?
Die Diagnose kam in der Kinderklinik, als ich etwa drei oder vier Jahre alt war, also 1970 oder 71. Beim Spielen stieß ich mit einem Spielzeugtraktor gegen einen Türrahmen und entwickelte ein riesiges Hämatom am Kopf. Da mein älterer Bruder ebenfalls betroffen war, hegten meine Eltern bereits den Verdacht.
Wie sah Ihr Alltag nach der Diagnose aus?
Zum Glück kamen wir 1974 nach Bonn, zum ersten Hämophilie-Zentrum überhaupt. Dort wurde ich von Professor Brackmann behandelt und begann mit der Faktorsubstitution – dreimal täglich, sieben Tage die Woche.
Das stelle ich mir als Kind sehr belastend vor.
Allerdings. Ich lernte mit sechs Jahren, mir selbst intravenös Spritzen zu geben, noch bevor ich in die Schule kam.
Gab es viele Einschränkungen in Ihrer Kindheit aufgrund der Erkrankung?
Oh ja. Vom Schulsport war ich grundsätzlich ausgeschlossen, ebenso von anderen körperlichen Aktivitäten und Ausflügen mit der Klasse. Meine Eltern packten mich aber nicht in Watte. Sie ließen mich mit anderen Kindern spielen, auch wenn ich mir mal den Arm brach oder mir den Kopf stieß.
Wie wurde Ihre Erkrankung in der Schule und im Freundeskreis aufgenommen?
Das war sehr unterschiedlich. In meinem Freundeskreis spielte es eigentlich keine Rolle. In der Schule hingegen schon, da ich oft nicht am Sport teilnehmen konnte. In der vierten, fünften und sechsten Klasse wurde ich deswegen stigmatisiert, gehänselt und ausgegrenzt. Aber das hat auch zu meiner Persönlichkeitsbildung beigetragen.
Wann gab es einen Wendepunkt in Bezug auf die Therapie und den Alltag? Wann begannen modernere Behandlungen?
Die 70er-Jahre waren sehr schwierig. Ich musste dreimal täglich spritzen, sieben Tage die Woche. Das war sehr zeitaufwendig. Damals musste man das Präparat vorwärmen, aufziehen, schütteln und es dann langsam, über eine halbe bis dreiviertel Stunde, spritzen oder als Tropf verabreichen. Ende der 70er, Anfang der 80er wurden die Faktorpräparate leichter aufzulösen und schneller zu spritzen. Mitte der 80er wurde es dann heikel, wegen des HIV-Skandals. Man hatte jedes Mal das Gefühl, sich mit der Spritze umzubringen.
Das ist ja furchtbar! Wie ging man damit um?
Mit Fatalismus und Galgenhumor. Man musste spritzen, es blieb einem nichts übrig. Man hatte die Wahl zwischen Pest und Cholera: Entweder man stirbt an einem Hämatom oder man infiziert sich mit einem Virus.
Haben Sie durch den HIV-Skandal Menschen verloren?
Ja, einige Bekannte aus dem Hämophilie-Zentrum sind daran gestorben.
Wie entwickelte sich die Therapie weiter?
Dann kamen die rekombinanten Faktoren auf den Markt, die gentechnisch hergestellt wurden und sicher vor HIV und anderen Viren waren. Das war ein enormer Fortschritt. Ende der 90er, Anfang der 2000er folgten halbwertszeitverlängerte Faktoren, wodurch man nicht mehr so oft spritzen musste. Und seit einigen Jahren gibt es subkutane Anwendungen. Jetzt spritze ich mir einmal wöchentlich eine Spritze in den Bauch, wie ein Diabetiker.
Was hat das für Ihre Lebensqualität bedeutet?
Die Lebensqualität hat enorm zugenommen. Als Kind hatte ich kaum Lebensqualität. In den 80ern war sie ganz im Keller. Aber heute kann ich ein relativ normales Leben führen.
Können Sie konkrete Beispiele nennen, wie sich Ihre Lebensqualität verbessert hat?
Allein schon, dass ich nur noch zweimal pro Woche spritzen musste, war ein großer Gewinn. Durch die subkutane Therapie ist es noch besser geworden, da das intravenöse Spritzen mit zunehmendem Alter immer beschwerlicher wurde, weil meine Venen nicht besser wurden.
Gibt es dennoch Missverständnisse oder Vorurteile in Bezug auf Ihre Erkrankung?
In den 80er Jahren gab es die Stigmatisierung, dass ich als „Bluter“ auch HIV-infiziert sei. Aber das hat sich gelegt. Heutzutage wissen die meisten Menschen nicht, was Hämophilie ist. Ich erkläre dann, dass es im Volksmund als „Bluterkrankheit“ bezeichnet wird und damit können die meisten etwas anfangen.
Wie kam es dazu, dass Sie sich bei der Deutsche Hämophiliegesellschaft e.V. (DHG) engagieren?
Ich bin mit meiner Familie seit den 70er-Jahren Mitglied bei der DHG. Vor einiger Zeit wurde ich von einer Mitarbeiterin der DHG angesprochen, ob ich mich nicht engagieren möchte. Seitdem bin ich in Awareness-Arbeit und Aufklärung eingebunden.
Und die SEBRACON – was fasziniert Sie daran?
Die SEBRACON ist die erste Convention für seltene Erkrankungen am 11. Oktober 2025 in Berlin. Dort geht es um Austausch, Sichtbarkeit und Empowerment – nicht über uns, sondern mit uns. Ich nehme teil, weil wir nur gemeinsam laut werden können. Diese Veranstaltungen stärken Awareness und ermöglichen echten Austausch, was mir sehr am Herzen liegt.
Warum ist das wichtig?
Der medizinische Fortschritt ist rasant – neue Therapieformen erscheinen gefühlt monatlich. Wir müssen informiert sein und bleiben, uns austauschen und gemeinsame Entscheidung mit Ärzten treffen. In solchen Settings wie SEBRACON wächst auch das Gemeinschaftsgefühl unter „Sebras“ – den Menschen mit seltenen Erkrankungen.
Das Interview führte Leonie Zell
Blut verbindet alle
Die Deutsche Hämophiliegesellschaft (DHG) wurde 1956 von Betroffenen, Angehörigen und Ärzten gegründet und hat heute rund 2.300 Mitglieder. Sie setzt sich bundesweit für Menschen mit angeborenen oder erworbenen Blutungskrankheiten sowie ihre Angehörigen ein – vom Säugling bis zum Rentner.
Die DHG arbeitet eng mit Ärzten, Krankenkassen und Pharmafirmen zusammen, unterstützt das Deutsche Hämophilieregister (DHR) und ist in 17 Regionalgruppen deutschlandweit vertreten.
Aktuelle Infos gibt es über die Homepage, die Hämophilie-Blätter, den Newsletter, Broschüren, Infofilme und weitere Materialien zu Erkrankungen wie Hämophilie, Von-Willebrand-Erkrankung, TTP oder ITP.
Mehr unter: www.dhg.de