Egal ob es um den Job, Freizeit, Sexualität oder Familienplanung geht: Menschen mit HIV können heute leben wie alle anderen. Bei rechtzeitiger Behandlung lässt sich der Ausbruch von Aids verhindern. HIV ist unter Therapie auch nicht mehr übertragbar. Das sind die guten Nachrichten. Die schlechten: Diskriminierung macht HIV-positiven Menschen das Leben oft immer noch unnötig schwer. Meist sind Vorurteile und Unwissenheit der Grund. Manche Leute fürchten nach wie vor eine Übertragung des Virus im Alltag und gehen deshalb auf Abstand, obwohl es dafür keinen Grund gibt. Nachfolgend geben sechs Menschen mit HIV einen Einblick in ihr Leben. Dabei wird deutlich: HIV muss im Alltag längst nicht mehr die Hauptrolle spielen.
Hildegard
Hildegards Diagnose kam vor zehn Jahren völlig unerwartet. Als Postbotin in einem kleinen bayerischen Dorf hatte die heute 47-Jährige Angst vor Stigmatisierung und Ausgrenzung. Aber sie lernte schnell, dass HIV heute behandelbar ist, beruhigte ihre Eltern, erzählte Menschen in ihrem Umfeld von der Diagnose.
Irgendwie zog die Nachricht Kreise. Schließlich brodelte die Gerüchteküche. Hildegard ließ mit Offenheit den Druck aus dem Kessel: „Ich musste den Deckel wegnehmen und erklären. Viele haben verstanden: Eine HIV-Infektion ist gar nicht so schlimm.“
Irgendwann fragte ihr Friseur, ob es für ihn gefährlich wäre, wenn er sie mal ins Ohr schneiden würde. Sie reagierte mit Offenheit und Humor: „Du darfst mich nicht ins Ohr schneiden! Aber nicht wegen HIV, sondern wegen der Ohren.“
Vor allem die Nachricht, dass HIV unter Therapie nicht mehr übertragbar ist, beruhigte den Mann schließlich. Auch ihre Hausärztin lernte noch von Hildegard dazu.
„Wenn hinter dem Rücken von Leuten getuschelt wird, reden alle mit, aber niemand kennt sich aus. Mir konnten alle selbst ihre Fragen stellen. Als sie mitbekommen haben, dass es okay ist, etwas nicht zu wissen, kamen wir richtig ins Gespräch.“
Dennis
Denis macht Ju-Jutsu. Als er das Team über seine HIV-Infektion informierte, gab’s Applaus und alle gingen locker damit um.
Möglich war diese entspannte Reaktion auch, weil Denis‘ Trainer von Anfang an hinter ihm stand und das Team über Basics informierte: Der Kampf mit Denis ist völlig ungefährlich – jedenfalls, wenn es um HIV geht. Manche seiner Gegner entwickeln trotzdem Berührungsängste. Dann stellen sich Trainer und Mannschaft vor ihren Teamkollegen.
Schutzlos ausgeliefert war Denis anfangs ausgerechnet den Sprüchen eines Arztes. Als er wegen Magenproblemen in die Notaufnahme ging, hörte er sinngemäß: Du bist ja selbst schuld an deiner HIV-Infektion, jetzt musst du auch mit den Nebenwirkungen klarkommen. Das war medizinisch genauso falsch wie menschlich, denn eine gut eingestellte HIV-Therapie hat heutzutage meist keine oder kaum Nebenwirkungen.
Seiner Familie gegenüber hat Denis sich noch aus Versehen geoutet, als er einer Lokalzeitung anlässlich des Welt-Aids-Tages ein Foto erlaubte. Nun zeigt er schon zum zweiten Mal in einer Welt-Aids-Tag-Kampagne Gesicht, um Stigma und Diskriminierung entgegenzutreten.
Lillian
In Uganda, wo Lillian aufgewachsen ist, hat sie viele ihr liebe Menschen durch Aids verloren, weil es dort an Zugang zu HIV-Therapien fehlte.
Durch ihre Flucht nach Deutschland entkam sie selbst dem Tod: Ihre Tuberkulose wurde geheilt, ihre HIV-Infektion behandelt. Aber auch hier musste sie viele Widerstände und Vorurteile überwinden.
Zum Beispiel, als ihre Tochter Yasemin in den Kindergarten kam: „Nachdem ich zum ersten Mal über mein Leben mit HIV gesprochen hatte, haben Eltern ihren Kindern verboten, in ihre Freizeitgruppe zu gehen. Sie hatten Angst, meine Tochter könnte ihre Kinder mit HIV infizieren.“
Was natürlich Quatsch ist. Das sagte Yasemin den anderen Kindern auch. Die glaubten ihr, weil sie sie kannten und ihr vertrauten. Yasemin war mit dem Wissen um Mamas Infektion groß geworden und kannte sich aus.
Das ist mittlerweile einige Zeit her. Vor Kurzem hat Yasemin Lillian zur Großmutter gemacht. Und ihre Enkeltochter wird hoffentlich nicht die gleichen Probleme haben wie ihr Kind. Die meisten Menschen in Lillians Umgebung haben mittlerweile verstanden: „Vor mir muss niemand Angst haben. Und vor meiner Tochter auch nicht.“
Giovanni
Berlin ist eine Bubble. „Wir haben gut informierte Ärzte und die queere Szene geht auch relativ entspannt mit dem Thema HIV um“, sagt Giovanni, der seit acht Jahren hier lebt und als Projektmanager in der Wärmepumpenbranche arbeitet.
Der 31-jährige Italiener weiß, wovon er spricht. In seiner katholisch geprägten Heimat Italien sei man von „schamfreier, nicht schuldbesetzter Sexualität“ noch recht weit entfernt. Und das erschwert auch den offenen Umgang mit HIV. Dementsprechend war Giovanni sehr nervös, als er sich bei seiner Mutter outete. Als Verstärkung mit im Team: seine Schwester. Die ist Ärztin und hatte schon früher per Zufall von der HIV-Infektion ihres Bruders erfahren: Bei einem Besuch zu Hause in Italien hatte er eine Pille verloren, die im Wäschekorb wieder auftauchte. Giovanni zog seine Mutter bei einem ihrer regelmäßigen Berlinbesuche ins Vertrauen. Es gab Tränen, aber kein Drama. Seine Schwester wartete in Rom am Flughafen, um die Mutter nach der Landung aufzufangen – mit Informationen.
„Die Angehörigen von Menschen mit HIV müssen ja auch Bescheid wissen, damit sie sich keine unnötigen Sorgen machen“, sagt Giovanni. „Erst wenn alle auf dem gleichen Wissensstand sind, kann man wirklich miteinander reden.“
Kristina
Kristina kennt ein Mittel gegen Berührungsängste: Kuscheln. Sie organisiert Events, wo Menschen in geschütztem Rahmen miteinander auf Schmusekurs gehen können, um ihre Bedürfnisse nach Berührung zu erkennen und auszuleben.
Vor vielen Jahren stellte Kristina fest, dass sie sexsüchtig war. Gerade als sie eine Möglichkeit suchte, sich neu mit ihrer Sexualität auseinanderzusetzen, war ihr HIV-Test positiv. „Das war nicht, was ich gewollt hatte, aber letztlich war es gut für mich“, sagt Kristina heute. Sie lernte, dass sie oft nur Berührung und Nähe suchte, wenn sie Sex hatte.
Was nicht bedeutet, dass sie jetzt auf Sexualität verzichtet: „Sex macht mir einfach großen Spaß und ich schäme mich nicht dafür.“
Aus der ehemaligen Journalistin ist mittlerweile eine Sexualtherapeutin und professionelle Organisatorin von Kuschelevents geworden. Kristinas wichtige Botschaft: Niemand soll sich schämen müssen. Nicht für Bedürfnisse. Nicht für Sexualität. Nicht für eine HIV-Infektion. „Es ist vollkommen okay, mit HIV zu leben!“, betont sie.
Auch für Kristinas Tochter sind die HIV-Infektion ihrer Mutter und ihr Aktivismus übrigens völlig normal.
Thomas
Bei einem Sex-Date verzichtete Thomas einmal auf ein Kondom, weil der Partner sagte, er sei frisch negativ auf HIV getestet. Thomas hatte Pech: Sein Test war kurz darauf positiv. Seine feste Beziehung hat das sogar gefestigt: „Mein Mann hat mir vermittelt: Wir schaffen das zusammen.“
Thomas entwickelt nach der Diagnose zunächst Ekel vor sich selbst und konnte keinen Sex mehr haben. Heute gibt er beim Online-Dating selbstbewusst im Profil an, dass er positiv ist und dass HIV aufgrund der Therapie nicht mehr übertragbar ist.
Drei Arten von Menschen begegnen ihm dabei: Die einen wissen schon gut Bescheid. Die anderen lernen gerne dazu. Und wieder andere lehnen ihn ab, beschimpfen ihn, weil er trotz HIV auf den Dating-Plattformen ist. „Da hilft dann nur blocken“, sagt Thomas. „Aber zunächst versuche ich immer, Verständnis für HIV-positive Menschen zu schaffen und aktuelles Wissen zu vermitteln.“ Denn das größte Problem liegt darin, dass viele Menschen noch nicht ausreichend mitbekommen haben, wie stark sich das Leben mit HIV in den letzten 25 Jahren verändert hat.
Als Thomas seiner Mutter die Diagnose mitteilte, war sie geschockt, als er kurz darauf bei ihr eintraf, war sie schon wieder beruhigt. „Thomas“, sagte sie, „ich habe gerade im Internet nachgeguckt. Es ist ja gar nicht mehr so schlimm.“
Autor: Emma Howe
Bilder: Deutsche Aidshilfe