Lungenerkrankungen

Mit jedem Atemzug zurück ins Leben

Nadine

Nach einer Coronainfektion erkrankte Nadine Dadour an Long Covid und entwickelte ME/CFS – eine schwere neuroimmunologische Erkrankung, die Körper und Alltag vollständig verändert. In Deutschland gibt es über 1,5 Millionen Betroffene, und doch kennt kaum jemand die Erkrankung. Im Gespräch erzählt sie, wie sich ihr Leben seitdem anfühlt, warum Atmen für sie zu einem bewussten Akt geworden ist und wie aus ihrer Erfahrung das Herzensprojekt „Tannentraum“ entstand.

Liebe Nadine, du hast nach einer Coronainfektion Long Covid entwickelt. Wann war das, und wie hast du die erste Zeit erlebt?

Ich hatte 2022 zwei Coronainfektionen. Die erste verlief völlig symptomlos, die zweite hat mich komplett aus der Bahn geworfen. Ich war erschöpft, hatte starke Erkältungssymptome und eine bleierne Müdigkeit, die sich wie eine schwere Decke über mich legte. Es dauerte rund zehn Wochen, bis ich mich halbwegs erholt fühlte. Im September 2023 erwischte mich dann ein viraler Infekt – kein Corona, aber eine Reaktivierung des Virus. Zuerst dachte ich, es sei eine harmlose Erkältung. Doch Wochen später merkte ich: Die Erholung bleibt aus. Jede kleine Anstrengung fühlte sich an, als hätte ich einen Marathon hinter mir. Ich war plötzlich nicht mehr belastbar. Es war, als hätte jemand die Batterie meines Körpers entfernt. In der Akutphase lag ich wochenlang im abgedunkelten Schlafzimmer. Jedes Geräusch, jedes Licht war zu viel. Meine Familie hat mich versorgt, weil ich es nicht einmal allein ins Bad geschafft habe. Mein Körper reagierte auf die kleinste Belastung mit Herzrasen, Atemnot und völliger Erschöpfung.

Welche Symptome standen am Anfang im Vordergrund – und wann hast du gemerkt, dass auch das Atmen betroffen ist?

Zuerst war es die bleierne Müdigkeit, dann kamen Kreislaufprobleme, Muskelschwäche und diese seltsame Atemnot dazu – als wäre genug Luft da, aber sie käme nicht in der Lunge an. Ich konnte nicht mehr tief durchatmen, obwohl alle Untersuchungen unauffällig waren. Es war, als würde mein Körper vergessen, wie Atmen funktioniert.

Wann kam die Verbindung zu ME/CFS ins Spiel?

Ich kannte ME/CFS vorher gar nicht. Zum Glück habe ich Ärzte in meinem Umfeld, die sich mit Long Covid auskennen, manche sind selbst betroffen. Sie konnten meine Symptome schnell zuordnen. Die Belastungsintoleranz, die bleibende Erschöpfung nach kleinsten Tätigkeiten, die Atemnot, das Stechen im Brustkorb, die Überempfindlichkeit gegenüber Licht, Geräuschen und Gerüchen – alles passte ins Bild. Nach der Diagnose begann ich, so gut es ging, zu recherchieren. Und ich musste erkennen, dass ich an einer chronischen, unheilbaren Krankheit leide, für die es kaum Forschung, keine Medikamente und keine Therapie gibt.

Viele bringen Long Covid oder ME/CFS nicht mit der Atmung in Verbindung. Welche Rolle spielt die Atmung bei dir?

Eine sehr große. Mein Körper reagiert auf kleinste Reize mit Atemnot. Das ist körperlich belastend, aber auch psychisch schwer zu ertragen. Atmen bedeutet Leben – wenn das schwerfällt, verliert man ein Stück Sicherheit. Ich habe das Atmen früher nie hinterfragt. Heute ist es zu einer täglichen Herausforderung geworden.

Wie erlebst du Atemnot im Alltag – körperlich und emotional?

Körperlich fühlt es sich an, als würde die Luft nicht in die Lunge gelangen. Manchmal atme ich automatisch flacher, um die Symptome nicht zu provozieren. Emotional ist es eine ständige Gratwanderung zwischen Kontrolle und Loslassen. Ich habe gelernt, ruhig zu bleiben, wenn Atemnot kommt, und mich nicht dagegen zu stemmen. Panik verschlimmert alles. Ich versuche, den Atem kommen zu lassen, wie er will – in dem Wissen, dass es wieder besser wird. Nach solchen Episoden fühle ich mich jedes Mal wie eine Überlebende.

In welchen Situationen fällt dir das Atmen besonders schwer?

Bei Gesprächen, beim Gehen, beim Treppensteigen – manchmal sogar beim Sitzen. Selbst Reize wie Licht, Geräusche oder Gerüche können Atemnot auslösen. Ich erinnere mich an eine Situation im Supermarkt: Der Duft eines Parfums einer anderen Kundin hat bei mir Atemnot und totale Erschöpfung ausgelöst. Solche Reize führen zu körperlichem Stress, den mein Körper nicht mehr regulieren kann.

Wie wirkt sich die eingeschränkte Belastbarkeit auf deinen Alltag aus?

Ich muss jede Aktivität genau planen und dosieren. Ich bewege mich langsam, mache viele Pausen und brauche Unterstützung bei alltäglichen Dingen. Die Wohnung verlasse ich nur noch zu wichtigen Terminen, meist für Arztbesuche. Haushalt, Einkaufen oder Spaziergänge mit dem Hund – für all das brauche ich Hilfe. Spontanität gibt es nicht mehr. Ich lebe in Etappen.

Wie würdest du ME/CFS beschreiben?

ME/CFS ist eine schwere, chronische Multisystemerkrankung. Sie betrifft das Nervensystem, das Immunsystem, die Muskulatur und den Stoffwechsel. Der Körper steht ständig unter Spannung, als würde er permanent Alarm schlagen. Selbst in Ruhe läuft innerlich ein Notfallprogramm. Fachleute sprechen von postexertioneller Malaise – eine Verschlechterung aller Symptome nach kleinster Anstrengung, manchmal erst Stunden später. Das erklärt, warum jede Überforderung den Zustand dauerhaft verschlechtern kann. Die bisher einzige Hilfe ist das sogenannte Pacing – also die konsequente Vermeidung von Überlastung.

Viele Betroffene berichten über Luftnot, obwohl ihre Lungenwerte normal sind. Wie erklärst du dir das?

Es gibt bisher keine klare Antwort. ME/CFS wird seit über 100 Jahren beschrieben, erstmals nach der Spanischen Grippe. Die WHO hat die Krankheit schon 1969 als neurologische Erkrankung anerkannt, und trotzdem gibt es kaum Forschung. In Deutschland leben etwa 1,5 Millionen Menschen mit Long Covid oder ME/CFS, viele davon sind Kinder oder Jugendliche. Trotzdem fehlt es an Wissen, Anerkennung und Strukturen. Als Betroffene fühlt man sich oft im Stich gelassen.

Was hilft dir im Alltag?

Langsames Atmen, Ruhe, Struktur und Pacing. Mein Leben findet in Zeitlupe statt. Ich habe gelernt, dass Heilung auch bedeutet, anzunehmen, statt zu kämpfen. Jeder Tag ist eine neue Übung im Loslassen.

Wie reagieren Ärzte auf deine Symptome?

Ich habe das Glück, ernst genommen zu werden. Viele andere Betroffene berichten von Ignoranz und Stigmatisierung. Das liegt auch daran, dass ME/CFS lange als psychisch galt. Es gibt keinen klaren Biomarker, und deshalb werden viele Fälle nicht ernst genommen. Dabei handelt es sich um eine körperlich schwere Erkrankung.

Was wünschst du dir von der Medizin und der Forschung?

Mehr Verständnis, mehr Aufklärung, mehr Forschung. Ärzte, Pflegekräfte, Krankenkassen und Gutachter müssen wissen, wie schwer diese Krankheit ist. Viele Betroffene kämpfen nicht nur mit ihren Symptomen, sondern auch mit Behörden, um Leistungen oder einen Pflegegrad zu bekommen. Wir brauchen Strukturen, die helfen, statt zusätzlich Kraft zu rauben. Und Orte, an denen man zur Ruhe kommen kann, ohne sich rechtfertigen zu müssen.

Wie beeinflusst Atemnot dein soziales Leben?

Sie verändert alles. Gespräche, Treffen oder selbst Telefonate kosten Kraft. Mein Umfeld musste lernen, dass meine Stille kein Rückzug ist, sondern Selbstschutz. Ich habe gelernt, dass echte Nähe auch in leisen Momenten entsteht.

Welche Rolle spielen Ruhe und Energieplanung in deinem Alltag?

Sie sind überlebenswichtig. Ich plane meinen Tag nach einem Energiebudget. Ruhe ist keine Pause, sondern Therapie. Ich nehme mir Zeit für bewusste Atmung – nicht um zu funktionieren, sondern um zu leben.

Wie hat sich dein Blick auf Atmung und Gesundheit verändert?

Atmung ist für mich der Spiegel des Lebens. Früher habe ich gehetzt, heute zählt jeder ruhige Atemzug. Er erinnert mich daran, dass ich noch da bin.

Was möchtest du anderen Betroffenen mitgeben?

Sei sanft mit dir. Du bist nicht schwach, du bist erschöpft. Es ist kein Versagen, sich Ruhe zu gönnen. Höre auf deinen Körper, nicht auf gesellschaftliche Erwartungen. Und erinnere dich daran: Dein Wert hängt nicht von deiner Leistungsfähigkeit ab.

Wie entstand dein Projekt „Tannentraum“?

„Tannentraum“ ist aus meiner Erkrankung heraus entstanden. Ich möchte einen Ort schaffen, an dem Menschen mit Erschöpfung, Long Covid oder ME/CFS zur Ruhe kommen können. Ein Haus im Schwarzwald, umgeben von Natur und frischer Luft. Kein Therapieprogramm, kein Druck, keine Beweispflicht – einfach ankommen und durchatmen.

Weitere Informationen zu Nadines Projekt unter: www.mein-tannentraum.de

Das Interview führte Leonie Zell

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