Wenn ein Kind geboren wird, beginnt für Eltern eine der aufregendsten und zugleich herausforderndsten Phasen ihres Lebens. Zwischen Glück, Unsicherheit und Schlafmangel suchen viele nach Orientierung. Hebamme Anna kennt beide Seiten: Seit vielen Jahren begleitet sie Familien professionell durch Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett – und als Zweifachmama weiß sie selbst, wie herausfordernd diese Zeit sein kann. Im Gespräch erklärt sie, warum Nähe wichtiger ist als Perfektion, wie Eltern lernen können, ihrer Intuition zu vertrauen, und weshalb ein gesunder Start ins Leben weit über medizinische Werte hinausgeht.
Anna
Hebamme und Mama
Liebe Anna, du begleitest seit vielen Jahren werdende Eltern als Hebamme und gleichzeitig bist du selbst Mutter. Wie prägt diese doppelte Rolle deine Arbeit?
Sie hat meinen Blick enorm erweitert. Als Hebamme wusste ich fachlich viel über Schwangerschaft und Geburt. Aber erst als Mutter habe ich gespürt, wie verletzlich diese Zeit sein kann.
Gab es Erfahrungen aus deiner eigenen Mutterschaft, die dich überrascht haben?
Absolut. Ich dachte, ich sei perfekt vorbereitet, und war dann doch überrascht, wie sehr mich Schlafmangel und emotionale Achterbahnen herausgefordert haben. Fachwissen ersetzt keine eigenen Gefühle. Ich habe gelernt, dass es in Ordnung ist, nicht alles im Griff zu haben.
Haben diese persönlichen Erfahrungen deine professionelle Haltung in der Arbeit mit Familien verändert?
Ja, sehr. Früher war ich manchmal zu schnell mit Ratschlägen. Heute höre ich länger zu und gebe den Eltern mehr Raum, ihre eigenen Lösungen zu finden. Ich vertraue darauf, dass jede Familie ihren eigenen Weg geht und dass mein Job darin besteht, Sicherheit zu geben, nicht fertige Rezepte.
Was sind aus deiner Sicht die wichtigsten Faktoren für einen gesunden Start ins Leben – für das Kind und die Eltern?
Für das Kind sind es Sicherheit und Nähe, für die Eltern Vertrauen in sich selbst. Ein gesunder Start bedeutet für mich nicht nur gute medizinische Werte, sondern auch eine Geburt, in der die Eltern das Gefühl haben: „Wir haben das gemeinsam geschafft.“ Diese emotionale Stärke trägt weit über die ersten Wochen hinaus.
Viele Eltern empfinden die Geburt als Balance zwischen Glück und Überforderung. Was hilft, schon in der Schwangerschaft eine stabile Basis für diesen Übergang zu schaffen?
Vorbereitung ist wichtig, aber nicht im Sinne von To-do-Listen. Viel entscheidender ist, dass man lernt, flexibel zu bleiben. Geburt ist nicht planbar. Wer akzeptiert, dass es Überraschungen geben wird, kann leichter mit Veränderungen umgehen. Gespräche mit der Hebamme, Atemübungen, aber auch das bewusste Einbeziehen des Partners oder der Partnerin sind wertvolle Schritte.
Hautkontakt, frühe Bindung, Nähe – diese Begriffe hört man oft. Was steckt für dich wirklich dahinter?
Hautkontakt ist kein „Nice-to-have“, sondern ein biologisches Grundbedürfnis. Babys regulieren dadurch ihre Atmung, Temperatur und ihren Herzschlag. Für die Eltern stärkt es die Bindung und das Selbstvertrauen.
Wo siehst du die größten Unterschiede zwischen idealisierten Vorstellungen vom Elternwerden und der Realität im Alltag?
Viele glauben, es müsse sofort eine Bilder-buchidylle entstehen. In Wahrheit ist die erste Zeit oft chaotisch, tränenreich und voller Zweifel – und das ist völlig normal. Ich erlebe häufig, dass der Druck von außen größer ist als die eigenen Ansprüche.
Viele Eltern fühlen sich von Ratgebern oder Meinungen im Umfeld verunsichert. Wie können sie lernen, wieder auf ihre eigene Intuition zu vertrauen?
Ich sage immer: „Dein Baby kennt nur dich und du kennst dein Baby am besten.“ Es ist wichtig, auf das eigene Bauchgefühl zu hören. Ratgeber können Orientierung geben, aber nie die Familie ersetzen. Manchmal hilft es, eine Zeit lang bewusst auf Vergleiche und Social Media zu verzichten, um die eigene Stimme klarer zu hören.
Wenn du werdenden Eltern nur eine einzige Botschaft mitgeben könntest: Was sollten sie unbedingt über die erste Zeit mit ihrem Kind wissen?
Dass Perfektion nicht existiert. Kinder brauchen keine perfekten Eltern, sondern echte, liebevolle, präsente Eltern.
Deine Arbeit endet nicht mit der Geburt. Welche Rolle spielt die Hebammenbegleitung in den ersten Lebensmonaten, gerade im Hinblick auf Gesundheit und das seelische Gleichgewicht der Eltern?
Eine sehr große. Wir sind oft die ersten Ansprechpartnerinnen, wenn es Unsicherheiten gibt. Stillen, Wundheilung, Entwicklung – all das sind Themen, die viele Fragen aufwerfen. Gleichzeitig hören wir auch die unausgesprochenen Sorgen heraus. Unsere Begleitung kann helfen, Überlastung frühzeitig zu erkennen, und zu verhindern, dass Eltern in eine Krise rutschen.
Wo wünschst du dir mehr gesellschaftliche oder politische Unterstützung, damit Kinder gesund ins Leben starten können?
Ganz klar: mehr Hebammen, bessere Bezahlung und flächendeckende Versorgung. Außerdem braucht es familienfreundlichere Strukturen: von flexiblen Arbeitsmodellen bis zu verlässlichen Betreuungsangeboten. Ein gesunder Start ins Leben ist kein Privileg, sondern sollte für alle Kinder selbstverständlich sein.
Wenn du an deine eigenen Kinder denkst, welche Werte oder Erfahrungen möchtest du ihnen unbedingt für ein gesundes und erfülltes Leben mitgeben?
Dass sie sich selbst vertrauen dürfen. Dass Fehler dazugehören. Und dass Liebe und Nähe wichtiger sind als Leistung. Wenn sie diese Grundsicherheit mitnehmen, haben sie ein starkes Fundament – für alles, was kommt.
Das Interview führte Emma Howe