*Kindergesundheit

„Die Krankheiten nehmen uns nicht die Lebensfreude“

Doto

Vier Kinder, zwei davon mit Diabetes Typ 1, eines zusätzlich mit Zöliakie und Epilepsie – das klingt nach einem Alltag voller medizinischer To-do-Listen, strenger Zeitpläne und ständiger Wachsamkeit. Bei Dorothea ist all das tatsächlich Teil des Lebens, doch ebenso fest verankert sind Lachen, Musik, Freundschaften und spontane Abenteuer. Die Familie reist regelmäßig, erkundet Städte und Natur und meistert unterwegs genauso wie zu Hause die Herausforderungen, die chronische Erkrankungen mit sich bringen. Im Gespräch erzählt Dorothea, wie sie Schritt für Schritt zu einer Alltagsroutine fand, weshalb Normalität für sie wichtiger ist als perfekte Blutzuckerwerte und warum sie überzeugt ist, dass schöne und schwierige Momente gleichermaßen vorübergehen.

Liebe Dorothea, bitte stellen Sie uns Ihre Familie kurz vor.

Zu unserer Familie gehören mein Mann, unsere vier Kinder – eine 22-jährige Tochter, eine 16-jährige Tochter und elfjährige Zwillingssöhne – sowie ein Hund, der für zusätzliche Bewegung und gute Laune sorgt.

Wie und wann wurde bei Ihren Zwillingen Diabetes Typ 1 diagnostiziert?

Bei unserem älteren Zwilling, der elf Minuten früher geboren wurde, fiel mir kurz vor Heiligabend auf, dass er mit 15 Monaten nicht mehr zunahm, nachts stündlich gestillt werden wollte und ich entsprechend häufig die Windeln wechseln musste. Sein Bruder schlief zu dieser Zeit bereits durch. Er wirkte für seine Art ungewöhnlich unausgeglichen und schlecht gelaunt. Obwohl man das in diesem Alter leicht auf Zahnen oder einen Entwicklungsschub schieben könnte, sagte mir mein Instinkt etwas anderes. Ich habe seit mehr als 20 Jahren bei meinen Kindern ein gutes Gespür für bevorstehende Krankheiten. Der Blutzuckertest beim Kinderarzt, den ich am nächsten Tag erbat, bestätigte leider meinen Verdacht. Bei seinem Bruder zeigte eine genetische Untersuchung später eine Wahrscheinlichkeit von 99 Prozent, dass auch er innerhalb von sechs Monaten bis sechs Jahren an Typ-1-Diabetes erkranken würde. Ich versuchte alles, um den Ausbruch hinauszuzögern, nahm mit ihm an einer Studie des Helmholtz-Instituts teil und verzichtete auf schnelle Kohlenhydrate wie Gummibärchen, Traubenzucker oder Saft. Trotzdem kam die Diagnose kurz nach meinem 42. Geburtstag. Bei einer abendlichen Routinekontrolle maß ich bei ihm einen Blutzuckerwert von über 300 mg/dl. Damals war er sieben Jahre alt und besuchte die erste Klasse.

Wie sah Ihr Alltag direkt nach der Diagnose aus?

Schon vor der Diagnose war ich durch das erste Jahr mit Zwillingen, zwei älteren Kindern und einem Hund sehr ausgelastet. Nach der Diagnose kam fast kein erholsamer Schlaf mehr dazu. Damals gab es noch keine zuverlässigen Blutzuckersensoren, deshalb musste ich mehrmals pro Nacht blutig messen und bei Unterzucker Traubenzucker oder Banane geben. Vor jeder Mahlzeit hieß es Hände waschen, messen, Portion abwiegen, Insulin berechnen und über die Pumpe abgeben. Das war bei so kleinen Kindern besonders schwierig, weil sie selten exakt das essen, was auf dem Teller liegt. Alle 48 Stunden musste ein neues Infusionsset gesetzt werden, was mir anfangs jedes Mal das Herz brach. Jede Unbeschwertheit und Spontanität war erst einmal verschwunden.

Wie haben Sie sich in das komplexe Diabetesmanagement eingearbeitet?

Wir verbrachten zehn Tage im Klinikum Dritter Orden in München und hatten das große Glück, von sehr kompetenten und empathischen Ärztinnen, Ärzten und Diabetesberaterinnen betreut zu werden. Jeden Tag gab es Schulungen, sodass wir am Morgen des Heiligabends mit einem soliden Grundwissen nach Hause gehen konnten. Als Gymnasiallehrerin bin ich es gewohnt, mich in komplexe Themen einzuarbeiten, und habe viel Fachliteratur gelesen. Ich trat einer Selbsthilfegruppe für Eltern von Kindern mit Typ-1-Diabetes bei, die ich heute selbst leite, und wurde Mitglied im Diabetikerbund Bayern. Der Austausch dort war und ist sehr wertvoll.

Was sind die größten täglichen Herausforderungen?

Die Nächte sind am belastendsten. Oft fallen Blutzuckersensoren plötzlich aus, Unterzucker tritt nach sportlicher Aktivität auf oder einer der Jungs zieht sich im Schlaf den Katheter heraus. Jede Unterbrechung der Insulinzufuhr kann innerhalb weniger Stunden gefährlich werden. Auch die Zöliakie unseres älteren Zwillings erfordert ständige Aufmerksamkeit, da absolute Glutenfreiheit gewährleistet sein muss. Besuchskinder müssen deshalb immer zuerst die Hände waschen. Der ältere Sohn verdrängte lange Zeit seinen Diabetes und gab bei heimlichem Naschen oft kein oder zu wenig Insulin ab. Insgesamt sind beide diszipliniert, wünschen sich aber manchmal, einfach unbeschwert essen zu können.

Wie gehen Ihre Söhne mit ihrer Erkrankung um?

Ich bin stolz auf ihre Selbstständigkeit. Schon in der ersten Klasse entschieden wir uns gegen einen Schulbegleiter. Nach schwierigen ersten Wochen meisterte der Ältere seinen Diabetes bald allein während der Schulstunden. Der Jüngere, der später erkrankte, war von Anfang an eigenverantwortlicher.

Wie gestalten Sie den Alltag mit mehreren chronischen Erkrankungen?

Die Epilepsie ist inzwischen gut medikamentös eingestellt und macht im Alltag kaum zusätzlichen Aufwand. Die Zöliakie hingegen erfordert ständige Vorsicht. Wir führen eine Hybridküche, das heißt, es gibt glutenhaltige und glutenfreie Lebensmittel, was ständige Kontaminationskontrollen nötig macht. Mittags koche ich meist glutenfrei für alle. Zusätzlich überprüfe ich regelmäßig Blutzuckerwerte, Insulinreservoirs und vieles mehr.

Wie gelingt es, eine gewisse Normalität zu bewahren?

Die Jungs haben viele Freunde, sind im Fußballverein, gehen bouldern und bauen Baumhäuser. Auch wenn spontanes Essen manchmal die Werte durcheinanderbringt, ist mir Normalität wichtiger. Musik spielt ebenfalls eine große Rolle. Der Jüngste spielt Mandoline und Klavier, der Ältere Schlagzeug. Krankheiten nehmen in unserem Alltag nur den Raum ein, der unbedingt nötig ist.

Wie sprechen Sie in der Familie über die Krankheiten?

Wir sprechen nur darüber, wenn es notwendig ist. Ich selbst habe Autoimmunerkrankungen und eine schwere Sprunggelenks-problematik, aber frage nicht, warum es uns getroffen hat. Die Jungs profitieren von Freiräumen, die ihre Schwestern in dem Alter nicht hatten, und von vielen gemeinsamen Reisen.

Fühlen Sie sich medizinisch gut betreut?

Insgesamt ja. Über unsere Selbsthilfegruppe sind wir gut vernetzt. Nur von der Grundschule fühlten wir uns anfangs alleingelassen, da die Mittagsbetreuung die Zwillinge nicht aufnehmen wollte und sie alles vom ersten Tag an selbst regeln mussten.

Was wünschen Sie sich von der Gesellschaft?

Mehr Offenheit und weniger Vorurteile. Leider hören wir oft falsche Schuldzuweisungen wie falsche Ernährung oder zu wenig Bewegung, obwohl Typ-1-Diabetes eine Autoimmunerkrankung ist.

Was hat Sie zu Ihrem Blog inspiriert?

Eine Freundin sagte nach der Diagnose ihres Sohnes, dass sie nie wieder weite Reisen machen könnten. Das wollte ich widerlegen. Aus meinen WhatsApp-Statusmeldungen entstand die Idee für www.unterwegsmitdiabeteskindern.de. Neben Reiseberichten gibt es dort Rezensionen, Alltagseinblicke und seit Kurzem auch eine Wellnesskategorie für Eltern. Schreiben ist für mich Therapie und Inspiration zugleich.

Wie sind die Reaktionen?

Viele fühlen sich inspiriert oder bestärkt, Dinge zu unternehmen, die sie sich vorher nicht zugetraut hätten. Solche Rückmeldungen berühren mich sehr.

Warum sind Reisen für Sie so wichtig?

Auf Reisen erlebt man die Kinder intensiver, entkommt dem Alltagsstress und stärkt das Selbstbewusstsein durch gemeisterte Herausforderungen. Der Diabetes reist zwar immer mit, aber viele Dinge gestalten sich unterwegs leichter.

Wie bereiten Sie sich auf Reisen vor?

Ich habe eine detaillierte Packliste für Diabetes- und Zöliakiebedarf. Dazu gehören Katheter, Sensoren, Insulin, Pflaster, Desinfektion, glutenfreie Vorräte und vorbereitete Mahlzeiten. Spontane Snacks vom Bäcker sind für uns keine Möglichkeit.

Gab es besondere Reiseerlebnisse?

Anstrengend war das Schleppen von fünf Koffern in Paris ohne Rolltreppen. Besonders schön war dagegen ein Sonnenuntergang auf den Blutinseln bei Ajaccio oder die Entdeckung einer versteckten kostenlosen Fähre in Danzig, die uns nach einer Brückensperrung ans Ziel brachte.

Was möchten Sie anderen Eltern mitgeben?

Am Anfang wirkt alles überwältigend, doch mit der Zeit wird das Management so selbstverständlich wie Zähneputzen. Chronische Erkrankungen können Kinder auch stärken.

Haben Sie ein Lebensmotto?

Ja, ein italienischer Satz: „I momenti belli e quelli difficili non durano per sempre.“ Das bedeutet: „Die schönen und die schwierigen Momente dauern nicht für immer.“ Es gibt nach jedem Tief auch wieder ein Hoch.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Weniger nächtliche Störungen, mehr Selbstständigkeit der Kinder, unkomplizierte Abläufe mit den Krankenkassen und Fortschritte in der Diabetesforschung. Vor allem wünsche ich mir, dass meine Kinder ein langes, glückliches und sinnerfülltes Leben führen.

Das Interview führte Leonie Zell

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