Wissen Sie, was einer der größten Stressfaktoren im Leben eines Menschen ist? Es ist die Ungewissheit! Menschen können schlechte Ereignisse, die vielleicht eintreten, weniger gut ertragen als jene, die es definitiv tun werden. Eine Diagnosestellung dient damit nicht nur als Grundlage für die medizinische Abrechnung oder die Rechtfertigung für die Gabe bestimmter Medikamente. Sie hat auch eine große Bedeutung für die Auseinandersetzung Betroffener mit ihren Beschwerden: Diagnosen geben eine Form von Sicherheit, weil sie den Stress der Ungewissheit reduzieren. Das kann sehr entlastend sein („Endlich habe ich es schwarz auf weiß“). Darüber hinaus können sie psychisch stabilisieren, denn Diagnosen legitimieren das Leid. Auf diese Weise ist mit der offiziellen Bestätigung intrapsychisch auch eine Berechtigung verbunden („Ich darf das so empfinden; ich bin krank, aber nicht unnormal“). Das gilt insbesondere für Symptome, die vorher niemand adäquat einordnen konnte oder ggf. nicht mal ernst nahm. Gute Beispiele hierfür sind Migräne und Clusterkopfschmerzen, auf denen in der Allgemeinbevölkerung nach wie vor das Odium einer banalen Befindlichkeitsstörung ruht („Nimm halt eine Aspirin und schlaf dich mal aus“).
Je länger ein Patient unter unklaren
Beschwerden leidet, desto größer wird sein Wunsch im Laufe der Zeit, gesehen und verstanden zu werden.
Je länger ein Patient unter unklaren Beschwerden leidet, desto größer wird sein Wunsch im Laufe der Zeit, gesehen und verstanden zu werden. Bei seltenen Erkrankungen kann die lange Zeitspanne des Kampfes um Legitimation psychisch stark belasten. Denken Sie an (zerebelläre) Ataxien, die in der Bevölkerung oft mit der impliziten Wahrnehmung einer Trunkenheit assoziiert werden. Oder denken Sie an chronische Erschöpfungssyndrome im Rahmen postviraler Erkrankungen, die Betroffene oft dem Vorwurf aussetzen, Drückeberger zu sein und nicht arbeiten zu wollen. Diagnosen entlasten, weil sie das Gewicht einer hypochondrischen Störung von den Schultern nehmen („Ich habe die Bestätigung, dass ich kein Psycho bin“).
Nichtsdestotrotz, auch dies gehört zur Wahrheit, kann der Wunsch nach Gewissheit durch eine eindeutige Diagnose auch eine Kehrseite haben: Manchmal sind Menschen mit neurologischen Symptomen nämlich bereit, äußerst abstruse Krankheitsnarrative für sich in Anspruch zu nehmen. Das Bedürfnis nach Sicherheit wird größer als jenes nach Wahrheit. Nicht jeder Rückenschmerz, der sich bis in den Nacken zieht, ist gleich eine Fibromyalgie. Im Fahrwasser vorschneller Diagnosen können dann unsinnige oder gar gefährliche Therapien hinterherreisen. Daher bleiben für uns Ärzte die weitere Forschung und die sorgfältige Beobachtung von Menschen mit „seltsamen“ Symptomen essenziell!
Stellen Sie sich Krankheitskonzepte wie Eisberge vor, die im Wasser treiben. „Bekannt“ ist jeweils nur die kleine Spitze oberhalb der Wasseroberfläche; der Rest darunter entzieht sich unserer Wahrnehmung. Wissenschaftliche Forschung senkt den Wasserspiegel. Dadurch werden Abschnitte der Eisberge sichtbar, die vorher noch unsichtbar waren. Wenn wir aufdecken, was von unseren Patienten vorher nur unspezifisch beschrieben und ggf. verbal mühsam verteidigt werden musste, leisten wir ihnen einen unschätzbaren Dienst. Nicht nur, weil wir dann aus unseren Erkenntnissen sinnvolle Therapien ableiten können, sondern auch, weil wir damit eines der stärksten psychischen Bedürfnisse erfüllen, die Menschen haben: das Bedürfnis nach Gewissheit.
Diesen Beitrag schrieb Neurologe, Psychiater und
Wissenschaftler Prof. Dr. Volker Busch
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