Sehstörungen, Taubheitsgefühle, Müdigkeit, Lähmungen, Mobilitätsverlust: Multiple Sklerose, kurz MS, hat viele Gesichter. Jeder der etwa 2,8 Millionen Betroffenen weltweit erlebt die chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems anders. Jack ist Anfang 20, will die Welt erobern und jeden Tag ein neues Abenteuer erleben. Doch plötzlich ist nichts mehr, wie es war. Ein heftiger Schub und schließlich die Diagnose Multiple Sklerose stellen sein Leben auf den Kopf – und alles infrage.
Jack, wann hast du die Diagnose Multiple Sklerose erhalten und wie hat sich die Erkrankung bei dir geäußert?
Rückblickend kann ich sagen, dass die MS sich bei mir schon in der Kindheit bemerkbar gemacht hat. Schon mit 13, 14 Jahren wurden meine Beine immer wieder taub und es kam vor, dass ich nicht laufen konnte. Der Kinderarzt schob das auf den Rücken, einen eingeklemmten Nerv oder tat es als Wachstumsschub ab. 2012 ging dann gar nichts mehr. Es war so schlimm, dass meine Mutter mir aus der Dusche helfen musste, weil ich allein nicht mehr dazu in der Lage war. Daraufhin gingen wir zu einem Bekannten meiner Mutter, der auch Neurologe war. Er schickte mich direkt ins Krankenhaus, weil er den Verdacht Schlaganfall hatte. Dort wurden einige Tests durchgeführt und nach zwei Wochen wurde mir mitgeteilt, dass ich Multiple Sklerose habe.
Das war sicher erst mal ein Schock. Wie bist du damit umgegangen?
Diese Visite, morgens um 7 Uhr, werde ich nie vergessen. Ich lag noch sehr verschlafen im Bett, als die Ärzte sagten: „Sie haben Multiple Sklerose. Wir wünschen Ihnen alles Gute“, und das Zimmer wieder verließen. Das war schon hart. Ich war Anfang 20, hatte in meinem Leben noch nie etwas von Multipler Sklerose gehört und niemand machte sich die Mühe, mir zu erklären, was diese Diagnose bedeutet. Ich hätte mir in dem Moment mehr Menschlichkeit gewünscht.
Ich hatte das Glück, dass meine Mutter aus der Medizin kommt. Sie hat mich aufgefangen und mir erklärt, dass ich eine chronisch-entzündliche, nicht ansteckende Erkrankung des zentralen Nervensystems habe, was schwerwiegende Folgen haben kann. Diese Informationen rissen mir den Boden unter den Füßen weg. Ich war jung, wollte die Welt erobern und plötzlich hieß es, das geht alles nicht mehr. Für mich fühlte es sich an, als sei mein Leben vorbei, und das suggerierte mir auch mein Umfeld. Alle waren sehr bestürzt über die Diagnose und vermittelten mir, dass ab jetzt gar nichts mehr geht.
Hatten sie recht?
Das erste Jahr nach der Diagnose war eine Katastrophe. Ich war nur noch zu Hause, habe mich nicht mehr mit Freunden getroffen, wollte einfach allein sein. Zu akzeptieren, dass mein Leben jetzt so anders sein sollte, damit kam ich nicht zurecht. Ein neuer Schub half mir dann aus der Abwärtsspirale heraus.
Ein Schub hat dir aus deinem mentalen Tief geholfen?
Ja, genau ein Jahr nach meinem ersten Schub bekam ich den nächsten. Dieser war so heftig, dass ich im Rollstuhl und schließlich auch wieder im Krankenhaus landete. Dort war ein junger Arzt, der mich nachts, als ich vor Sorgen nicht schlafen konnte, zur Seite genommen hat. Er erklärte mir ausführlich alles zum Thema MS. Aus dem Krankenhaus ging es direkt in eine sechswöchige Reha. Der Austausch mit anderen Betroffenen hat mir sehr geholfen. Zu sehen, dass das Leben mit der Diagnose MS nicht vorbei ist und sogar schön sein kann, hat mir die Kraft gegeben, mein Leben nach der Diagnose zu beginnen.
Bitte erzähle uns von deinem neuen Leben.
Ich höre wesentlich mehr auf meinen Körper und kenne meine Grenzen. Ich habe auch gelernt zuzugeben, wenn ich gewisse Dinge einfach nicht schaffe. Das war nicht leicht. Durch den Rückhalt von Freunden und Familie habe ich aber auch das geschafft.
Was ist dein größter Verlust durch die MS?
Ein Stück Lebensqualität, aber ich habe mich größtenteils damit arrangiert, mein Leben anders zu genießen – mit Höhen und Tiefen.
Was wünschst du dir sich im Umgang mit MS?
Mehr Aufklärung! Ich erwarte nicht, dass die Menschen alles über die Erkrankung wissen, doch ein bisschen mehr Wissen diesbezüglich würde ich mir sehr wünschen. Es gibt weltweit so viele Millionen Betroffene und doch weiß die Öffentlichkeit so wenig darüber. Ich merke so oft, wie wenig Verständnis dafür herrscht. Beispielsweise war ich mit meiner Freundin letztens im Museum und habe an der Kasse meinen Schwerbehindertenausweis gezeigt. Ich sehe nicht behindert aus und die Frau kannte MS nicht. Daraufhin unterstellte sie mir, dass ich nichts hätte und mir den Eintritt ermogeln möchte. Solche Situationen passieren leider recht häufig. Das macht mich traurig und wütend zugleich – ich habe mir nicht ausgesucht, schwerbehindert zu sein.
Hast du Angst vor der Zukunft?
Ja, denn man weiß bei MS nie, was als Nächstes kommt. Auch wenn ich derzeit medikamentös gut eingestellt bin und sich die Erkrankung ruhig verhält, weiß man nie, was morgen ist. Ich habe am eigenen Leib erfahren, wie schnell sich das ändern kann: Gerade ist noch alles in Ordnung und plötzlich sitzt man im Rollstuhl. Und die Schäden, die ich bereits habe, sind für mich schon extrem hart.
Welche Schäden sind das?
Meine gesamte linke Körperhälfte ist so gut wie taub. Wenn man mich anfasst, spüre ich nicht, ob ich gekratzt oder gestreichelt werde. Meine Hand-Augen-Koordination ist stark eingeschränkt und auf dem rechten Auge bin ich so gut wie blind – und ich bin erst 33. Wer weiß, was da noch alles kommt.
Was möchtest du anderen Betroffenen raten?
Scheut euch nicht, Hilfe zu ersuchen. Es ist nichts Beschämendes dabei, sich hinzustellen und um Hilfe zu bitten. Sprecht offen mit der Familie und mit Freunden über eure Erkrankung, aber auch über eure Ängste und Sorgen. Das mit sich selbst ausmachen zu wollen, bringt nichts, und aus dieser Abwärtsspirale wieder herauszukommen, ist unglaublich schwer. Glaubt mir, ich habe es erlebt und weiß, wovon ich spreche.
Das Interview führte Emma Howe