Wegsehen ist keine Lösung: Sexuell übertragbare Infektionen (STI) und Geschlechtskrankheiten sind seit Jahren wieder auf dem Vormarsch. Welche sollten wir im Auge behalten und welche Rolle spielen Aufklärung und Enttabuisierung bei der Bekämpfung von STI? Das haben wir Prof. Dr. Norbert Brockmeyer gefragt.
Herr Prof. Dr. Brockmeyer, wenn wir das Tabuthema ins rechte Licht rücken wollen – wie nennt man denn sexuell übertragbare Krankheiten korrekt?
Der korrekte Begriff ist „sexuell übertragbare Infektionen“. Die Unterscheidung ist sehr wichtig: Es werden keine Krankheiten übertragen, sondern Infektionen, die zu einer Krankheit führen können. Sexuell übertragbare Infektionen und Geschlechtskrankheiten bedingen sich; eine Geschlechtskrankheit wird durch einen sexuell übertragbaren Erreger ausgelöst. In Kampagnen wird immer von STI geredet, „sexuell transmitted Infections“.
Die individuelle Sexualität ist ein Tabuthema. Zwar wird heute ständig über Sexualität geredet, aber nicht über die eigene. Tabus führen wiederum zu einer Stigmatisierung.
Haben Geschlechtskrankheiten wie HIV ihren Schrecken verloren?
Ja, für HIV kann man das so sagen. HIV ist nicht mehr so präsent. Das liegt daran, dass wir eine hervorragende Therapie haben und dass die Neuinfektionszahlen in Deutschland relativ gering sind. Deutschland gehörte schon immer zu den Ländern mit der geringsten Prävalenz und Inzidenz für HIV. In Kombination mit den guten Therapiemöglichkeiten hat dies dazu geführt, dass HIV zunehmend weniger sichtbar ist. HIV-positive Menschen, die gut therapiert sind, sind deutlich weniger infektiös. In manchen Teilen Afrikas oder Asiens haben wir eine ganz andere Situation.
Andere sexuell übertragbare Infektionen standen nie so im Fokus wie HIV. Wir sehen hier aber seit dem Jahr 2000 eine deutliche Zunahme von Syphilis und anderen Infektionen.
Woran liegt die fehlende Öffentlichkeit für Syphilis, Hepatitis, Tripper, Chlamydien, HPV und Co.?
Sicher hat es auch damit zu tun, dass die individuelle Sexualität ein Tabuthema ist. Diese Entwicklung hat schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts begonnen, mit dem Aufkommen des Bürgertums. Sexualität wurde mehr und mehr zu einer Angelegenheit, die nicht aus den Familien heraus nach außen dringen sollte. Zwar wird heute ständig über Sexualität geredet, aber nicht über die eigene. Obwohl es vieles gibt, was die Menschen beschäftigt, vom sexuellen Selbstverständnis über Infektionen bis hin zur ungewollten Kinderlosigkeit. Diese Tabuisierung von Sexualität und damit auch von sexuell übertragbaren Infektionen sehen wir allerdings nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern und Kulturen. Teils noch deutlich stärker als hier. Tabus führen wiederum zu einer Stigmatisierung.
Mir berichten verstärkt Menschen mit HIV, dass sie Aggression erfahren, ausgegrenzt werden. Andere, die an Schulen Aufklärung betreiben, berichten, dass Schüler die Klassen verlassen und dass sie, die Dozenten, nach der Stunde massiv beschimpft werden. Das ist ein großes Problem, denn Aufklärung ist ein wesentlicher Aspekt der Prävention.
Das trifft an sich auch auf HIV zu. Was war oder ist hier anders?
Durch gezielte Kampagnen haben wir in den 1990er-Jahren erreicht, dass Diskriminierung und Ausgrenzung von HIV-positiven Menschen abnahmen. Aktuell scheinen wir allerdings wieder einen Schritt zurückzugehen, sowohl was die Diskriminierung von Menschen mit HIV als auch insgesamt den offenen Umgang mit Sexualität betrifft. Zwar kann ich diesen Eindruck derzeit noch nicht mit Zahlen belegen, mir berichten allerdings verstärkt Menschen mit HIV davon, dass sie Aggression erfahren, ausgegrenzt werden. Andere, die an Schulen Aufklärung betreiben, berichten, dass Schüler die Klassen verlassen und dass sie, die Dozenten, nach der Stunde massiv beschimpft werden. Das ist ein großes Problem, denn Aufklärung ist ein wesentlicher Aspekt der Prävention.
Wie lässt sich dem entgegenwirken?
Nur, indem wir die Aufklärung wieder verstärken. Die Kampagnen der BZgA sind deutlich zurückgefahren worden, dabei war gerade die Aufklärung unsere Stärke. Sie hat dazu geführt, dass es in Deutschland eine so geringe Prävalenz für HIV gab und auch noch gibt. Das Zusammenwirken aus Präventionsaktionen der BZgA mit NGOs, mit der Zivilgesellschaft – hier hatten wir Erfolge. All das hat aber in den 2000er-Jahren nachgelassen. Und was uns aktuell auf die Füße fällt, ist auch, dass wir es nicht wirklich geschafft haben, eine sexuelle Organisationsentwicklung in Institutionen einzubringen. Das ist aber das Entscheidende: Wir müssen in den Institutionen aktiv werden, an Schulen, in Einrichtungen. Wir müssen dort hingehen, wo Jugendliche sind, wo Menschen mit Behinderungen sind, wo unaufgeklärte sexuell aktive Menschen sind. Die Menschen wissen nicht, wie sie über Sexualität reden sollen. Man kann es aber lernen.
Gibt es weitere sexuell übertragbare Infektionen, die wir in Deutschland im Blick behalten sollten?
Fangen wir mit dem Einfachsten an: HPV. Humane Papillomviren führen noch immer jedes Jahr zu vielen Tausend Krebsvorstufen und Tumoren, bei Frauen wie bei Männern. Sie können Gebärmutterhalskrebs, Peniskarzinome, Analkarzinome oder auch Kehlkopfkrebs auslösen. Eine Impfung kann wahrscheinlich 95 bis 98 Prozent dieser Tumoren verhindern – in Deutschland liegen die Impfraten bei Frauen aber nur bei 60 und bei Männern lediglich bei 20 Prozent. Wir vertun hier unsere Chance im Vergleich mit Dänemark, England oder Australien. Hier sind die Impfraten viel höher und wir sehen in Australien fast keine Todesfälle mehr, die auf eine HPV-Infektion zurückzuführen sind.
Auch Chlamydien oder Gonokokkeninfektionen sind zu wenig bekannt in der Bevölkerung. Chlamydien können im Verlauf zu Unfruchtbarkeit, Darmentzündungen oder Tumorbildung führen, Gonokokken zu Tripper. Herpes simplex wird durch enge körperliche Kontakte übertragen und kann große Probleme machen, auch im Genitalbereich. Diese Krankheiten lassen sich in der Regel gut behandeln – allerdings muss das Bewusstsein dafür da sein, damit man sich schützt und gegebenenfalls behandeln lässt. Das setzt Aufklärung voraus und die Möglichkeit, darüber zu reden. Bei mehr als fünf sexuellen Kontakten mit unterschiedlichen Partnern sollte man sich beraten und testen lassen, damit Sex weiterhin Spaß macht.
Das Interview führte Miriam Rauh