Thomas Kotschmar ist 49 Jahre alt. Er mag seine Freunde und seinen Beruf, freut sich auf Urlaube und Konzerte. Ein ganz normales Leben – allerdings ist Thomas Kotschmar von der Friedreich-Ataxie betroffen, einer seltenen neurologischen Erkrankung, die im Verlauf zunehmend stärkere Einschränkungen mit sich bringt.
Herr Kotschmar, in welchem Alter und mit welchen Anzeichen hat sich die Erkrankung bei Ihnen gezeigt?
Als ich 20 oder 21 Jahre alt war, bemerkte ich beim Motorradfahren Probleme mit dem Gleichgewicht. Dem habe ich anfangs wenig Bedeutung zugemessen. Die Gleichgewichtsstörungen wurden allerdings über die Jahre immer stärker. Dann kamen erste Auffälligkeiten bei der Sprache hinzu, später in der Tiefenwahrnehmung. Ich konnte plötzlich nicht mehr ohne Geländer Treppen laufen. Mein Aktionsradius wurde immer kleiner – bis ich mich dazu durchgerungen habe, einen Rollstuhl zu nutzen. Es klingt paradox: Der Rollstuhl, der als Inbegriff für Immobilität und Einschränkung gilt, hat mir viele Freiheiten zurückgebracht.
Wann erhielten Sie die Diagnose?
Zehn Jahre lagen zwischen den ersten Symptomen und der Diagnose. Bei einer so seltenen Erkrankung muss man Glück haben, auf Ärzte zu treffen, die den richtigen Verdacht haben. Ich war zwar immer wieder umfassend wegen meiner Beschwerden untersucht worden, aber die Ärzte fanden nichts. Erst als ich berufsbedingt umgezogen war, wunderte sich mein neuer Hausarzt über meinen schwankenden Gang. Er verwies mich an einen Neurologen, der mich wiederum nach Würzburg an die Uniklinik schickte. Ab da ging es relativ schnell. Mit dem Verdacht auf Friedreich-Ataxie kam ich aus Würzburg zurück zum Neurologen, der die Vermutung bestätigte.
Es war ein Schock, ich brauchte Zeit, das zu verarbeiten. Allerdings wusste ich nun auch, was auf mich zukommt.
Was ging in Ihnen vor?
Die Diagnose war eine Zäsur. Ich saß im Sprechzimmer, der Neurologe bestätigte „Friedreich-Ataxie“, griff ein Buch aus dem Regal und las laut: „Durchschnittliche Lebenserwartung 36 Jahre.“ Dann sagte er: „Wenn Sie schon immer mal nach China fahren wollten, machen Sie’s bald.“ Das werde ich nie vergessen. Mir zog es den Boden unter den Füßen weg. Ich weiß sonst kaum noch etwas von diesem Termin. Aber diese Szene hat sich mir eingebrannt.
Es war ein Schock, ich brauchte Zeit, das zu verarbeiten. Allerdings wusste ich nun auch, was auf mich zukommt; ich suchte mir eine barrierefreie Wohnung. Zum Glück reagierte mein Hausarzt ganz anders. Er sagte: „Friedreich-Ataxie – habe ich noch nie gehört. Aber wir sehen uns in einer Woche wieder und dann weiß ich Bescheid.“ So eine Reaktion wünscht man sich. Und die 36 Jahre Lebenserwartung, die der Neurologe prognostiziert hatte, habe ich schon um viele Jahre überboten.
Wie hat Ihr Umfeld reagiert?
Ich war damals recht neu in der Stadt und hatte dort noch wenig Freunde. Anfangs war ich viel alleine. Meine Kollegen haben mich allerdings sehr unterstützt, daraus haben sich auch Freundschaften entwickelt. Zurückblickend teile ich mein Leben in die Zeit davor und danach ein. Mein neuer Freundeskreis kennt mich nur so, wie ich jetzt bin. Das macht manches einfacher, weil ich nichts erklären muss. Mein aktuelles Leben hat nicht mehr viel mit meinem früheren Leben zu tun; ich sehe kaum zurück.
Was hat Ihnen in dieser Zeit geholfen?
Meine Familie und meine Kollegen waren meine Stützen in dieser Zeit. Was genau mir am meisten geholfen hat, kann ich schwer sagen … irgendwann wollte ich mir mein Leben zurückholen. Der Impuls dafür muss letztlich von einem selbst kommen. Es braucht eine intrinsische Motivation, damit man etwas verändern kann.
Was stört Sie am meisten an der Friedreich-Ataxie?
Dass sich meine Sprache so verändert hat, stört mich sehr. Sprache hat eine Außenwirkung, man wird von Fremden schnell in eine Schublade gesteckt. Ich bin dadurch zurückhaltender, als ich es früher war.
Tauschen Sie sich mit anderen Betroffenen aus?
Ja, über Facebook und über den Förderverein Friedreich-Ataxie bin ich mit Betroffenen aus ganz Europa in Kontakt. Gerade bei einer seltenen Erkrankung kann es sehr hilfreich sein, mit anderen Betroffenen Erfahrungen auszutauschen.
Das Interview führte Miriam Rauh
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