Über 300.000 Kinder mit Sichelzellkrankheit kommen jedes Jahr vor allem in Subsahara-Afrika, aber auch in einigen Ländern Asiens und Südamerikas zur Welt. Unbehandelt verkürzt die Sichelzellkrankheit die Lebenserwartung – vor allem aufgrund der damit verbundenen hohen Kindersterblichkeit. In Deutschland ist die Sichelzellkrankheit eine seltene Erkrankung, es gibt rund 3.200 Betroffene. Durch die großen Migrationsbewegungen gewinnt sie aber auch bei uns an Bedeutung und Aufmerksamkeit. Oberärztin Lena Oevermann behandelt junge Patienten mit dieser genetisch bedingten Erkrankung.
Frau Dr. Oevermann, was ist die Sichelzellkrankheit?
Die Sichelzellkrankheit ist eine bei uns seltene, genetisch bedingte Blutkrankheit. Zuerst aufgetreten ist diese genetische Veränderung wahrscheinlich auf dem afrikanischen Kontinent und hat sich aufgrund des Überlebensvorteils von Anlageträgern der Erkrankung gegenüber Malaria vor allem in Ländern im westlichen Afrika, dem Nahen Osten, Indien und im südlichen Mittelmeerraum verbreitet. Bei der Erkrankung führt eine vertauschte Aminosäure dazu, dass sich falscher roter Blutfarbstoff bildet. Das Hämoglobin, das für den Sauerstofftransport in unserem Körper zuständig ist, verklebt und bildet Fasern, die die roten Blutkörperchen schädigen: Sie bekommen statt der gesunden runden die sichelförmige Form. Diese Sichelzellen zerfallen schneller als gesunde; zugleich verfangen sie sich schneller in der Blutbahn, was zu Gefäßverschlüssen überall im Körper bis hin zu Schlaganfällen und Infarkten führen kann.
Wie wird die Sichelzellkrankheit diagnostiziert?
Wichtig ist, dass Kinderärzte überhaupt daran denken und hellhörig werden, wenn Kinder mit Migrationshintergrund mit Schmerzkrisen, oft im Bereich des Brustkorbs, im Bauch oder den Extremitäten, zu ihnen kommen. Dann sollten Bluttests und die sogenannte Hämoglobinelektrophorese erfolgen. Seit März 2021 ist die Sichelzellkrankheit Teil des Neugeborenenscreenings in Deutschland und wird somit bereits bei der U2 festgestellt. Das ist großartig, weil frühzeitig mit der Therapie begonnen werden kann und wir die Eltern schulen können, schon bevor es ein medizinisches Problem gibt.
Wie verläuft die Behandlung der Sichelzellkrankheit?
Diese sollte im Idealfall von einem spezialisierten Behandlungsteam durchgeführt werden, das eng mit Haus- und Kinderärzten zusammenarbeitet. Für einen günstigen Verlauf ist es wichtig, dass Betroffene und Angehörige umfassend über die Krankheit und Therapie aufgeklärt sind und sich auf die Behandlung einlassen.
Eine Heilung der Sichelzellkrankheit ist nur durch eine Stammzelltransplantation möglich. Aufgrund möglicher Risiken und fehlender Spender geschieht dies allerdings nur selten. Zur Standardbehandlung gehört das Chemotherapeutikum Hydroxycarbamid, ein Krebsmedikament, das dafür sorgt, dass der Organismus mehr vom unbeeinträchtigten „fetalen“ Hämoglobin bildet, dessen Bildung sonst bei Kindern von der Geburt bis zur Vollendung des ersten Lebensjahres langsam abgeschaltet wird. Dieses „Babyhämoglobin“ reduziert die Sichelzellen um zehn bis 30 Prozent und sorgt für einen besseren Blutfluss im Körper. Dadurch werden Krisen und Infarkte verringert, man erzielt jedoch keine vollständige Symptomfreiheit. Rund 20 Prozent der Patienten sprechen leider nicht auf das Medikament an.
Eine neue Therapie macht Hoffnung.
Es gibt verschiedene Ansätze. Es gibt neue Medikamente in der Entwicklung, die das Hämoglobin stabilisieren und Verformungen verhindern sollen, und andere, die das Andocken der Sichelzellen an den Blutgefäßen verhindern und dadurch Krisen vermeiden sollen. Die aus meiner Sicht größte und spannendste Entwicklung der letzten Jahre ist eine neu zugelassene Gentherapie. Hier werden im Labor genetische Fehler in zuvor entnommenen Knochenmarkstammzellen der Patienten korrigiert, sodass Hämoglobin wieder korrekt produziert werden kann und sich keine sichelförmigen Blutkörperchen mehr bilden. Der Vorteil ist, dass man keinen Spender mehr braucht, sondern dem Patienten seine Blutstammzellen entnimmt. Auch hier ist eine Chemotherapie notwendig, um Platz im Knochenmark für die korrigierten körpereigenen Stammzellen zu schaffen. Das ist ein neuer und aus meiner Sicht sehr schlauer Ansatz und eine große Hoffnung für Patienten auf ein normales Leben.
Sie setzen sich stark für Aufklärung ein. Wie kam es zu diesem Engagement?
Aufklärung ist wichtig – hierzulande, aber auch global. Durch die vielen Kinder, die zu uns in die Ambulanz kommen, habe ich auch den hohen globalen Bedarf gesehen. Wir haben hier in Deutschland die Chance, so vielen Menschen weltweit zu helfen – und das ist mein Ansporn.
Das Interview führte Emma Howe
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