Neurologische Erkrankungen

Spitzenreiter im Schatten

Kleinschnitz

Gedanken von Prof. Christoph Kleinschnitz, einem der führenden Neurologen Deutschlands:

Seit 2024 sind neurologische Erkrankungen auch offiziell die häufigsten Erkrankungen weltweit.1 Alleine in den letzten 30 Jahren sind sie um rund 60 Prozent angestiegen, nicht zuletzt aufgrund des zunehmenden Anteils alter Menschen in vielen Ländern der Erde. Die meiste gesunde Lebenszeit verlieren wir dabei durch Schlaganfälle, gefolgt unter anderem von den Demenzen und der Migräne, die viele junge Menschen quält. Somit führen mehr Menschen ein Leben mit neurologischen Erkrankungen als mit jeder anderen Erkrankung.

Warum die Neurologie weltweit auf Platz 1 steht

Führt man sich diese dramatischen Zahlen vor Augen, stellt sich die Frage, wie die immense Bedeutung neurologischer Krankheiten in Gesellschaft und Politik abgebildet ist. Aus meiner sicherlich sehr subjektiv gefärbten Sicht noch viel zu gering.

Fehlendes Bewusstsein in Gesellschaft und Politik

Spricht man mit Bekannten und Freunden aus dem eigenen Umfeld, ist das Wissen über das Medizinfach Neurologie häufig diffus. Nicht selten werden Neurologen noch mit Psychiatern verwechselt oder es fällt schwer, eine einzige konkrete neurologische Krankheit zu benennen. Auch schwingt bei „Nervenleiden“ weiterhin ein gesellschaftliches Stigma mit und man versucht, seine Symptome lieber zu verbergen.

Während jeder – zum Glück! – den Herzinfarkt kennt und weiß, dass dabei jede Sekunde zählt, erreicht die Mehrzahl der Schlaganfallpatienten aufgrund von Unkenntnis selbst bei ärztlichen Kolleginnen und Kollegen noch immer zu spät die Klinik.

Schlaganfall, Demenz, Migräne – unterschätzte Volkskrankheiten

Die Möglichkeit zur Tumorvorsorge wird heute von Millionen Menschen in Anspruch genommen. Das ist gut so.

Prävention: Fast jeder zweite Demenzfall wäre vermeidbar

Kaum jemandem ist jedoch bekannt, dass sich auch fast 50 Prozent der Demenzfälle durch entsprechende präventive Maßnahmen verhindern ließen.

Wie Betroffene Veränderung anstoßen können

Schaut man in den Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesregierung, kommen neurologische Erkrankungen an keiner (!) Stelle vor. Stattdessen wird auf die Wichtigkeit der onkologischen Versorgung verwiesen, auf die geschlechtersensible Medizin und die medizinischen Folgen des Klimawandels.

Damit ich nicht falsch verstanden werde: Diese Themen sind ohne Zweifel auch wichtig. Dennoch muss man sich fragen, weshalb neurologische Krankheiten noch so wenig in den Köpfen der Menschen und Politiker verankert sind, obwohl sie weltweit auf Platz 1 rangieren.

Die Rolle von Medien, Fachgesellschaften und Patienten

Wie lässt sich das ändern? In erster Linie durch Sie, liebe Betroffene. Durch Ihre Stimme, durch einen hohen Organisationsgrad in Patientenverbänden und nur durch stetes Auf-sich-aufmerksam-Machen kann das Bewusstsein in Politik und Gesellschaft geschärft werden, wie andere Krankheitsbilder eindrucksvoll gezeigt haben.

Natürlich sind auch die entsprechenden Fachgesellschaften gefragt, etwa die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN), nach der Amerikanischen Neurologenvereinigung die zweitgrößte Neurologengesellschaft der Welt. Es braucht schlichtweg noch mehr Lobbyarbeit und bisweilen auch eine laute Stimme.

Schließlich ergeben sich mit den sogenannten „neuen Medien“ bisher nicht gekannte Möglichkeiten zur medizinischen Aufklärung, die unbedingt genutzt werden sollten. Natürlich bergen die sozialen Medien auch die Gefahr der Desinformation. Die Vielzahl von unseriösen Heilsversprechen und die Armeen von Scharlatanen, die dort zu finden sind, belegen das leider eindrücklich.

Sinnvoll und seriös eingesetzt, können sie aufgrund ihrer enormen Reichweite jedoch ein einzigartiges Vehikel sein, medizinische Informationen laienverständlich zu transportieren. Zusammen mit den richtigen Patienten-Testimonials und fachlich fundierten Medizin-Influencern kann so gerade ein junges Zielpublikum in großem Umfang und niederschwellig erreicht werden.

Sichtbarkeit schaffen, Stigmata abbauen

In diesem Sinne, seien Sie versichert, dass Sie mit Ihrer neurologischen Erkrankung nicht alleine sind, sondern in bester Gesellschaft.

Den Artikel hat Prof. Dr. Christoph Kleinschnitz, Direktor der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Essen, geschrieben

Quelle: 1.The Lancet Neurology, 2024; DOI: 10.1016/S1474-4422(24)00038-3

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