Demenz ist mehr als eine medizinische Diagnose. Sie ist ein schleichender Abschied, der sich über Jahre hinziehen kann – leise, fast unmerklich und doch unaufhaltsam. Jeden Tag geht ein kleines Stück des geliebten Menschen verloren. Nicht plötzlich, nicht sichtbar wie eine Wunde – aber tief spürbar für jene, die zurückbleiben. Für Partnerinnen und Partner, die mit jemandem leben, der ihnen vertraut ist und doch immer fremder wird. Für Kinder, deren Eltern nach und nach die gemeinsamen Erinnerungen verlieren – Geburtstage, Urlaube, Namen. In Deutschland leben aktuell rund 1,8 Millionen Menschen mit Demenz, zwei Drittel davon mit Alzheimer, der häufigsten Form. Experten rechnen damit, dass diese Zahl in den kommenden Jahrzehnten deutlich steigen wird. Schon jetzt wird ein Großteil der Betroffenen – etwa 76 Prozent – zu Hause gepflegt, meist von Angehörigen. Für sie ist Demenz nicht nur eine Krankheit, sondern ein täglicher Kraftakt. Zwischen Fürsorge und Erschöpfung, zwischen Überforderung und tiefer Zuneigung. Und inmitten all dessen gibt es sie: die flüchtigen, kostbaren Momente der Nähe, der Verbindung, des Wiedererkennens – die zeigen, dass da noch etwas ist. Jemand. Olga ist 58 Jahre alt. Vor vier Jahren bekam ihr Mann Mario (65) die Diagnose Alzheimer. Im Interview erzählt sie, wie sich ihr gemeinsames Leben verändert hat und was es bedeutet, wenn der Mensch, den man liebt, langsam verschwindet.
Olga, wie haben Sie gemerkt, dass sich Mario verändert?
Der allererste Moment war eher seltsam als beunruhigend. Mario stand eines Morgens auf, zog sich an – Hemd, Jackett, sogar die Laptoptasche – und sagte: „Ich muss los, die Besprechung ist um neun.“ Ich war irritiert. Er war damals schon zwei Jahre in Rente. Ich sagte nur: „Mario, du arbeitest doch gar nicht mehr.“ Aber er bestand darauf. Und war regelrecht ärgerlich, als ich ihn aufhalten wollte.
Wie haben Sie das damals gedeutet?
Ich dachte, vielleicht hatte er von der Arbeit geträumt, und habe mir nichts weiter dabei gedacht. Aber dann kamen andere Dinge dazu. Er verlegte ständig Schlüssel, Briefe, Portemonnaie. Fragte mich dreimal hintereinander, wann der Müll abgeholt wird. Irgendwann sagte er, dass der Fernseher „komisch redet“. Da habe ich innerlich gespürt: Da passiert was. Und es macht Angst.
Wie kam es dann zur Diagnose?
Es war ein langer Weg. Ich habe ihn monatelang versucht zu überreden, mit mir zum Arzt zu gehen. Aber er wehrte sich. Sagte, er sei doch nicht verrückt. Ich glaube, er spürte selbst, dass etwas nicht stimmte. Erst als er einmal auf dem Heimweg zu unserer alten Wohnung in einen anderen Stadtteil gefahren ist, weil er überzeugt war, dass wir dort wohnen, hat er eingewilligt. Nach einigen Untersuchungen bekamen wir dann auch die Diagnose Demenz. Das war hart. Sehr hart. Ich kann mich noch genau an den Satz des Arztes erinnern: „Ihr Mann zeigt klare Anzeichen einer beginnenden Alzheimer-Demenz.“ Ich saß da, habe genickt, Fragen gestellt – funktioniert, wie man eben funktioniert. Erst abends, allein im Bad, habe ich zum ersten Mal richtig geweint.
Wie hat Ihr Mann reagiert?
Mario hat es nicht wahrhaben wollen. Er hat gesagt, dass sich der Arzt irren muss. Danach hat er nie wieder darüber gesprochen.
Das muss schlimm für Sie gewesen sein. Mit wem konnten Sie über die Diagnose sprechen?
Ich habe mich meiner besten Freundin anvertraut. Sie ist es auch, die mich am meisten mental unterstützt. Ohne sie wüsste ich oft nicht, wie es weitergehen soll.
Was hat sich in Ihrem Leben seit der Diagnose verändert?
Alles. Absolut alles. Es ist, als würde man zusehen, wie ein geliebter Mensch Stück für Stück verschwindet. Er ist noch da, körperlich. Aber innerlich ist er oft weit weg. Es fühlt sich an, als verliere ich ihn langsam, ohne dass er wirklich geht. Und das Schlimme ist: Es gibt kein Anhalten, kein Umkehren.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Eines Tages saß er auf dem Sofa, ganz ruhig. Ich brachte ihm einen Tee. Da sah er mich an – und fragte: „Wissen Sie, wo meine Frau ist?“ Ich habe gezuckt. Ich habe ihm gesagt, dass ich’s bin. Und er runzelte nur die Stirn und sagte: „Sie sehen ihr ähnlich.“ Das passiert leider immer öfter.
Wie organisieren Sie den Alltag?
Sehr strukturiert. Rituale geben ihm Halt. Ich schreibe Zettel: „Heute ist Montag“, „Du bist zu Hause“, „Ich bin gleich zurück“. Wir stehen jeden Tag zur gleichen Zeit auf, gehen dieselbe Strecke spazieren, essen fast das Gleiche. Sobald etwas abweicht, wird er nervös und manchmal auch aggressiv. Er hat eine Phase gehabt, da wollte er ständig weg. Einmal hat er sich angezogen, die Tür geöffnet und gesagt, er hätte einen Einsatz. Früher war er bei der freiwilligen Feuerwehr, doch das ist schon 35 Jahre her. Doch er war fest überzeugt, dass die Kameraden ihn brauchen. Ich konnte ihn kaum bremsen.
Das klingt sehr belastend.
Ja, das ist es. Ich bin ständig in Alarmbereitschaft. Ich kann ihn nicht lange allein lassen. Er könnte irgendwohin laufen, sich verlaufen, einen Herd anlassen. Ich schlafe schlecht, bin oft gereizt und gleichzeitig voller Schuldgefühle, weil ich manchmal einfach erschöpft bin.
Es ist, als würde man mit ansehen, wie ein geliebter Mensch Stück für Stück geht. Sein Körper ist präsent, doch er wirkt oft fern. Und dann gibt es diese Augenblicke, in denen er mich ganz klar anschaut und sagt: ‚Du bist schön.‘ Oder einfach meine Hand nimmt. Es sind nur Sekunden, aber sie bedeuten alles. Denn sie zeigen mir: Er ist noch immer da.
Wie geht es Ihnen persönlich mit alldem?
Ich würde lügen, wenn ich sage: Gut. Ich liebe meinen Mann, ich bin dankbar für die Zeit mit ihm. Aber ich bin auch müde. Emotional, körperlich, seelisch. Ich habe mich selbst ein bisschen verloren in den letzten Jahren. Früher war ich Olga Heute bin ich Betreuerin und Pflegerin. Darf ich ehrlich sein?
Ja, natürlich.
Manchmal liege ich nachts wach und dann denke ich: Wie lange kann ich das noch und was passiert, wenn ich nicht mehr kann? Davor habe ich Angst.
Das ist verständlich. Gibt es trotz allem auch schöne Momente?
Ja, die retten mich. Manchmal sieht er mich an, ganz klar, und sagt: „Du bist schön.“ Oder er nimmt plötzlich meine Hand. Es sind nur Sekunden, aber sie zeigen mir, dass er noch da ist. Irgendwo hinter dieser Krankheit. Und ich liebe ihn. Anders als früher, aber nicht weniger.
Bekommen Sie Hilfe?
Ja, inzwischen. Ich bin einer Angehörigengruppe beigetreten, das hat mir sehr geholfen. Dort kann man alles sagen, auch die dunklen Gedanken. Und man wird nicht bewertet. Auch ein ambulanter Pflegedienst kommt inzwischen regelmäßig. Es war ein schwerer Schritt für mich, Hilfe anzunehmen. Aber ich habe gelernt: Ich kann nur für ihn da sein, wenn ich mich selbst nicht vergesse. Das war eine der wichtigsten Lektionen. Ich wollte immer alles allein schaffen – das hat auch mit Stolz zu tun und vielleicht mit der Ehe, die wir geführt haben. Wir waren immer ein starkes Team. Aber mit der Demenz kam diese neue Realität: Ich kann das nicht allein auffangen. Ich habe gelernt, dass Liebe auch bedeuten kann, sich Unterstützung zu holen, damit man überhaupt weitermachen und für den anderen da sein kann.
Wenn Sie an die Zukunft denken – was wünschen Sie sich?
Vor allem wünsche ich mir, dass er möglichst lange in Würde leben darf. Dass er keine Angst hat, keinen Schmerz. Und dass ich die Kraft behalte, ihn zu begleiten, bis zum Ende – so, wie wir es uns einmal versprochen haben.
Was möchten Sie anderen Menschen mitgeben, die Ähnliches erleben?
Traut euch, über das zu sprechen, was euch überfordert. Lasst euch helfen. Und vergesst euch selbst nicht. Es ist okay, traurig zu sein. Es ist okay, wütend zu sein. Es ist okay, zu weinen und zu schreien. Aber es ist auch okay, zu lachen. Demenz nimmt viel – aber sie zeigt auch, wie tief Liebe wirklich reicht. Und sie lehrt uns, den Moment zu sehen. Denn manchmal ist eine einzige klare Minute mehr wert als alles, was war.
Das Interview führte Emma Howe