Interdisziplinäre Hilfe für Menschen mit seltenen Erkrankungen
In Europa leiden mehr als 30 Millionen Menschen an einer seltenen Erkrankung. Das Universitäre Zentrum für Seltene Erkrankungen Leipzig (UZSEL) gilt als Anlaufstelle für Patienten, die im Gesundheitssystem bereits viele Spuren hinterlassen haben und auf die keine gängige Diagnose passt. Wir sprachen mit Lotsenärztin Dr. Skadi Beblo über die wichtige Arbeit der Zentren für seltene Erkrankungen.
Bei seltenen Erkrankungen sind Diagnosestellung und Behandlung häufig komplex. Wie gelingt eine adäquate Versorgung?
Wichtigste Voraussetzung zur Diagnosestellung ist zunächst einmal, dass ein betreuender Arzt – meist der Kinder- oder Hausarzt – bei dem betroffenen Patienten den Verdacht auf eine seltene Erkrankung hat. Denn vor der Versorgung steht die Diagnosestellung. Dabei muss es sich nicht um einen spezifischen Verdacht auf das Vorliegen einer eindeutigen Erkrankung handeln, sondern zunächst nur, dass sich die Symp-tomatik des Patienten keiner gewöhnlichen, gut bekannten Diagnose zuordnen lässt. Der nächste Schritt ist dann idealerweise das Hinzuziehen von Kollegen, die auf dem Gebiet seltener Erkrankungen arbeiten, idealerweise die Kontaktaufnahme zu einem Zentrum für seltene Erkrankungen, möglichst wohnortnah.
Wie arbeiten Zentren für seltene Erkrankungen?
Wir am Universitären Zentrum für Seltene Erkrankungen Leipzig bearbeiten Anfragen von Patienten und/oder Ärzten nach Eingang möglichst umfangreicher Vorbefunde und Unterzeichnung einer Schweigepflichtsentbindung. Nach Sortieren und Zuordnung aller Daten zu entsprechenden Fachgebieten werden die Daten in einer interdisziplinären Fallkonferenz besprochen und die Empfehlungen zum weiteren Vorgehen festgelegt. Diese erhält dann der Patient in Form eines Empfehlungsschreibens mit konkreten Hinweisen, an wen oder an welche Klinik oder Spezialambulanz er sich als Nächstes wenden kann und welche weiteren diagnostischen Maßnahmen eingeleitet werden sollten. Hierbei können wir auch auf eine inzwischen große Anzahl integrierter B-Zentren und Spezialambulanzen innerhalb des Universitätsklinikums Leipzig zurückgreifen, was die Arbeit sehr erleichtert und den Informationsfluss für die betroffenen Menschen vereinfacht. Bei bekannter Diagnose erfolgt die Beratung bezüglich eines möglichst wohnortnahen spezialisierten Behandlungszentrums zur weiteren Betreuung. In seltenen Fällen können dies auch Zentren im deutschsprachigen Ausland sein, je nachdem welche Person sich mit dem vorliegenden Krankheitsbild klinisch, therapeutisch und wissenschaftlich beschäftigt und über eine ausgewiesene Expertise verfügt. Zusätzlich empfehlen wir bei bekannter Diagnose oder auch Zuordnungsmöglichkeit zu einem bestimmten Erkrankungskomplex die Kontaktaufnahme mit einer entsprechenden Selbsthilfegruppe und teilen exakte Kontaktaufnahmemöglichkeiten mit.
Warum ist es so wichtig, auch die Angehörigen nicht zu vergessen?
Angehörige von Menschen mit einer seltenen Erkrankung haben immer eine besondere Stellung in der Familie. Zum einen sind sie oft als Unterstützung für die Patienten selbst unabdingbar, zum anderen aber dadurch sowie durch die Sorge um ihren Angehörigen schwer belastet. In aller Regel haben sie ja auch zusätzlich den eigenen Alltag zu bewältigen. Auch für sie ist der Kontakt zu einer entsprechenden Selbsthilfegruppe sinnvoll, und in vielen Fällen halten diese auch entsprechende Beratungsstellen vor. Des Weiteren empfehlen wir in vielen Fällen die psychologische Begleitung der Familien bzw. Angehörigen und verweisen diesbezüglich auf Institutionen in der Nähe der Familien unter Berücksichtigung der besonderen Rolle der Angehörigen bzw. der Stellung innerhalb der Familie.
Sie sind auch als Lotsenärztin tätig. Was kann man sich darunter vorstellen?
Nach den Kriterien des Nationalen Aktionsbündnisses für Menschen mit Seltenen Erkrankungen, kurz NAMSE, handelt es sich bei einem Lotsen im Zentrum für seltene Erkrankungen um einen „Helfer durch schwieriges Gewässer“. Im Zusammenhang mit seltenen Erkrankungen ist darunter gemäß des NAMSE am ehesten die „Hilfestellung im Auffinden einer geeigneten Anlaufstelle“ für einen Patienten zu verstehen. Hierbei kann der sogenannte nicht ärztliche Lotse als Schnittstelle zwischen dem anfragenden Patienten und weiteren Mitarbeitern des Zentrums selbst bzw. auch externer Institutionen sein. Dazu gehört auch die Vernetzung mit Patienten- und Interessengruppen.
Ein ärztlicher Lotse hingegen unterstützt die Patienten bei der Suche nach Experten, Fachzentren und Ansprechpartnern für ihre seltene Erkrankung, bei bekannter Diagnose. Bei unbekannter Diagnose erfolgt die Unterstützung bei der Diagnosefindung mithilfe von Netzwerkpartnern und weiteren interdisziplinären Fallkonferenzen.
Was wünschen Sie sich für Menschen mit seltenen Erkrankungen?
Ich wünsche mir als ersten Schritt ein erweitertes Bewusstsein der Bevölkerung für diese Menschen. Das ist letztlich die Voraussetzung dafür, dass ihnen in unserer Gesellschaft die Teilhabe ermöglicht wird, wie jedem anderen Gesellschaftsmitglied auch.
Das Interview führte Emma Howe
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