Zwischen Beruf, Familie, sozialen Verpflichtungen und der ständigen Erreichbarkeit bleibt oft kaum Raum zum Durchatmen. SPIEGEL-Bestsellerautorin und Mentalcoach Cordula Nussbaum hat sich in ihrem neuen Buch dem Thema Mental Load gewidmet. Im Interview spricht sie darüber, warum viele Frauen sich für ihre Erschöpfung schämen, wie man dem Dauerstress entkommt – und warum Selbstfürsorge nichts mit Egoismus zu tun hat.
Viele Frauen jonglieren heute zwischen Beruf, Familie und sozialen Verpflichtungen. Welche Risiken sehen Sie hier für die mentale Gesundheit?
Ich sehe ganz klar das Risiko, dass es für viele Frauen einfach zu viel geworden ist – zu viele Bälle, die gleichzeitig in der Luft gehalten werden müssen. Das beginnt oft schon mit den hohen Ansprüchen, die viele Frauen an sich selbst stellen: Frau möchte im Job glänzen, eine tolle Mutter sein, eine gute Partnerin, den Haushalt im Griff haben und den Alltag organisieren. All diese Erwartungen lasten schwer – und sie unter einen Hut zu bringen, ist zeitlich oft kaum machbar. Noch belastender ist es, das alles mental zu koordinieren und den Überblick zu behalten. Hinzu kommen unzählige „unsichtbare Aufgaben“: Das Kind daran erinnern, den Turnbeutel mitzunehmen, den Schulranzen freitags auszuräumen, damit das Pausenbrot nicht übers Wochenende schimmelt – all diese Kleinigkeiten summieren sich. Der Umfang der Aufgaben ist riesig, und das bringt viele Frauen an ihre Grenzen. Studien zeigen aktuell, dass über 66 Prozent der berufstätigen Mütter in Deutschland sagen: „Akku leer, Schicht im Schacht – es geht nicht mehr.“
66 Prozent – das ist eine fatale Zahl! Aber warum wird darüber nicht berichtet?
Es wird immer wieder darüber gesprochen, aber zu selten mit der nötigen Deutlichkeit. Vielleicht machen wir mit dem Buch jetzt genau den Unterschied – indem wir klar sagen: Es ist eben nicht normal, sich dauerhaft wie im Nebel zu fühlen oder das Gefühl zu haben „Oh Gott, wenn jetzt noch ein To-do dazukommt …“ Das sind Alarmzeichen. Wenn jede neue Aufgabe schon beim bloßen Gedanken Stress auslöst, ist das ein klares Signal. Und genau hier sehe ich meine Aufgabe: aufzuklären. Denn nur weil dieses Gefühl weit verbreitet ist, heißt das nicht, dass es normal oder hinnehmbar ist. Frauen müssen das nicht akzeptieren. Es braucht mehr Bewusstsein dafür, diese Zustände überhaupt erst als solche zu erkennen. Um zu sagen: „Stimmt, so geht es mir gerade. Und offensichtlich bin ich nicht allein. Also: Lasst uns etwas ändern.“
Was sind typische Anzeichen für mentale Erschöpfung?
Ein erstes Anzeichen ist ein Anflug von Panikgefühlen bei neuen Aufgaben. Viele haben auch das Gefühl, durch Watte zu laufen – „Brain Fog“. Auch Gereiztheit gehört dazu. Viele ignorieren diese Signale, weil sie denken, sie hätten keinen Grund zur Klage.
Ein übersteigerter Perfektionismus ist also Teil des Problems?
Ja, total. Und Social Media verstärkt das noch. Wir vergleichen uns mit inszenierten Welten – perfekte Wohnungen, perfekte Familien. Das zermürbt. Viele fragen sich dann: Warum bin ich nicht so zufrieden wie andere?
Warum fällt es vielen Frauen so schwer, sich Auszeiten zu nehmen oder auch mal Nein zu sagen?
Ich möchte es positiv formulieren: Es gibt viele Frauen, die das können. Die bewusst spüren, wann es zu viel wird, und frühzeitig Grenzen setzen. Sie betreiben „Ressourcenmanagement“ und erlauben sich, Einladungen abzusagen oder Aufgaben zu delegieren. Viele andere hingegen haben nie gelernt, auf sich selbst zu hören – ihnen fehlt oft das Vertrauen, dass es in Ordnung ist, auch mal nicht zu „funktionieren“.
Und was tun wir gegen das schlechte Gewissen, wenn wir absagen oder uns zurückziehen?
Da sind wir bei meinem „Kompassprinzip für mentale Stärke“: Das erste „K“ steht für Kontrolle übernehmen. Ich empfehle, sich selbst zur „Chief Happiness Officerin“ zu ernennen. Das bedeutet: Ich bin verantwortlich dafür, dass es mir gut geht. Wer es immer allen recht macht, vergisst sich selbst.
Manchmal reagieren andere mit Unverständnis. Wie geht man damit um?
In meinen Coachings sage ich klar: Schau dir dein Umfeld an. Wer dich ständig unter Druck setzt oder beleidigt reagiert, wenn du nicht mitziehst, ist vielleicht nicht die richtige Begleitung in dieser Lebensphase. Umgib dich mit Menschen, die dich stärken – Vorbilder, die gut für sich sorgen.
Viele haben Angst, egoistisch zu wirken. Wie begegnen Sie dem Vorwurf?
Sich Zeit für sich zu nehmen, ist nicht egoistisch – es ist überlebenswichtig. Es geht nicht darum, nichts mehr für andere zu tun. Sondern darum, sich selbst im Blick zu behalten und klare Grenzen zu ziehen.
Ein großes Thema ist auch die Reizüberflutung durch digitale Medien. Was raten Sie da konkret?
Digitalisierung ist ein riesiger Stressfaktor. Wir scrollen durch Feeds, vergleichen uns, verbrennen Lebenszeit. Ich empfehle: Begrenze deinen Social-Media-Konsum Schritt für Schritt. WhatsApp-Gruppen, die Energie ziehen? Raus! Alles, was Reize reduziert, entlastet mental.
BUCHTIPP
Die 1-Minuten-Strategie gegen mentale Erschöpfung
Fühlst du dich mental erschöpft? Dauernd überansprucht, müde und ausgelaugt? Dann ist es Zeit für die 1-Minuten-Strategie gegen mentale Erschöpfung. Neuro-Coach und SPIEGEL-Bestsellerautorin Cordula Nussbaum zeigt, wie du mit einfachen 1-Minuten-Hacks neue mentale Kraft tankst – schnell, wirksam und alltagstauglich. Du erkennst erste Warnzeichen von Überlastung, findest gezielte Gegenmaßnahmen und lernst, deine mentale Gesundheit aktiv zu schützen.
Mehr Fokus, Energie und Leichtigkeit – überall machbar, sofort umsetzbar und absolut wirkungsvoll!
ISBN 978-3833899287, GRÄFE UND UNZER Verlag GmbH
In Ihrem neuen Buch sprechen Sie von „Ein-Minuten-Strategien“ gegen mentale Erschöpfung. Warum gerade 60 Sekunden? Und wie kamen Sie auf dieses Konzept?
Ich arbeite seit über 20 Jahren als Coach, und mir war schon immer wichtig, dass Menschen wirklich etwas verändern können – und zwar konkret im Alltag. Es bringt nichts, nur theoretisch zu sagen: „Ich sollte mal …“, wenn es am Ende doch beim Wunsch bleibt. In meiner Arbeit hat sich gezeigt: Natürlich, man soll groß träumen – „Think big“, wie es so schön heißt. Aber große Ziele überfordern oft. Sie wirken weit entfernt und für viele kaum erreichbar. Es gibt das schöne Sprichwort: „Jede weite Reise beginnt mit einem ersten Schritt.“ Genau da setzt meine Idee an. Ich habe vor Jahren die „Mini-Move-Methode“ entwickelt: kleine Veränderungen, kleine Taten, die uns in Bewegung bringen. Gerade dann, wenn wir mental erschöpft sind, fehlt oft die Kraft für große Veränderungen. Da ist man manchmal so am Limit, dass man froh ist, wenn der Tag endlich vorbei ist. Deshalb sind kleine, sofort umsetzbare Schritte so wichtig. Wenn ich nur eine Minute lang etwas tue – etwa jetzt sofort ein Glas Wasser holen und genussvoll in kleinen Schlucken trinken –, dann bewirkt das schon etwas. Es bringt Kraft zurück. Und genau darum geht es bei den Ein-Minuten-Strategien: Menschen in die Umsetzung bringen – mit einfachen Schritten, die idealerweise sofort spürbar etwas verändern.
Wer ist die Zielgruppe des Buches?
Sowohl Frauen, die schon tief im Mental Load stecken, als auch jene, die vorbeugen wollen. Prävention ist enorm wichtig. Viele merken, dass sie auf dem Weg in die Erschöpfung sind – das Buch hilft, rechtzeitig gegenzusteuern. Und natürlich ist es auch für Männer perfekt geeignet. (lacht)
Gibt es Übungen, die Sie besonders empfehlen für Frauen, die sich dauerhaft im „Mental-Load-Modus“ befinden?
Ja, eine ganz einfache, aber sehr wirksame Übung ist: alles aufschreiben. Ich mache das oft mit meinen Coaching-Klientinnen. Haptisch! Also wirklich: Zettel, Stift und dann alles raus aus dem Kopf. To-dos, Sorgen, Ideen, Belastendes – einfach alles niederschreiben. Das hat eine enorm bereinigende Wirkung. Viele merken dann: „So viel ist es ja gar nicht“, oder: „Okay, ja es ist viel. Aber jetzt sehe ich es und kann sortieren.“ Viele Menschen erleben das Aufschreiben als unglaublich hilfreich, weil es uns mental sofort entlastet. Eine zweite, ganz niederschwellige Übung ist die Ein-Minuten-Pause. Wenn alles zu viel wird, wenn der Kopf dröhnt und man nicht weiß, wo man anfangen soll – einfach mal eine Minute hinsetzen, Augen schließen, tief durchatmen. Es klingt simpel, aber diese eine Minute bringt sofort eine kleine Entspannung. Sie gibt Raum, kurz aus dem Autopiloten auszusteigen. Und das kann schon reichen, um wieder einen klareren Blick zu bekommen. Gerade im größten Chaos hilft es, bewusst innezuhalten – und sei es nur für 60 Sekunden.
Erklären Sie im Buch auch, warum das funktioniert?
Ja, auf einfache, aber fundierte Weise. Wenn wir viele offene Aufgaben im Kopf haben, entsteht neuronale Spannung. Das Gehirn ist im Dauerstress. Schreiben wir Dinge auf, reduziert sich diese Spannung – und wir können wieder klarer denken. Ich erkläre auch, wie sich bei kognitiver Arbeit Glutamat im Gehirn „anstaut“ und Denkprozesse blockiert. Pausen helfen, diesen „Stau“ abzubauen.
Wenn Sie unseren Leserinnen nur einen Rat zur mentalen Gesundheit geben könnten – welcher wäre das?
Hören Sie auf Ihr Bauchgefühl, welche Strategien Ihnen helfen. Lassen Sie sich inspirieren, aber kopieren Sie nicht einfach andere. Fragen Sie sich: Was würde mir jetzt guttun? Und dann vertrauen Sie darauf. Unser Bauchgefühl ist ein großartiger Ratgeber – wir müssen nur wieder lernen, darauf zu hören.
Das Interview führte Emma Howe