Neurologische Erkrankungen

Myasthenia Gravis: „Nichts ist, wie es mal war“

marie

Als Marie Anfang 30 war, ließen Kraft, Sprache und Ausdauer plötzlich nach. Erst nach über fünf Jahren erhielt sie die Diagnose Myasthenia gravis – eine seltene Autoimmunerkrankung, bei der die Signalübertragung zwischen Nerven und Muskeln gestört ist. In Interview erzählt sie, wie sich ihr Leben verändert hat und warum Akzeptanz manchmal der größte Kraftakt ist.

Marie, wann hast du gemerkt, dass etwas nicht stimmt?

Ich war schon immer jemand, der viel geschafft hat. Ich habe Vollzeit gearbeitet, war im Verein aktiv und habe mich um alles gekümmert. Mein Kalender war immer voll, und ich mochte es, gebraucht zu werden. Dann kam plötzlich diese seltsame Erschöpfung. Ich kam die Treppen kaum noch hoch, mein Blick verschwamm, beim Sprechen rutschten mir die Worte weg. Ich begann Sätze und wusste mitten im Gespräch nicht mehr, was ich sagen wollte. Es war, als würde mein Körper langsam, aber sicher seine Verbindung zu mir verlieren. Es fühlte sich nicht wie normale Müdigkeit an. Ich war Anfang 30 und begann, an mir selbst zu zweifeln: Vielleicht übertreibe ich. Vielleicht bin ich einfach nicht so belastbar, wie ich dachte. Ich fühlte mich oft schuldig, als würde ich meiner Umwelt nicht mehr gerecht werden. Ich wollte stark sein, aber mein Körper ließ mich immer wieder im Stich. Das war ein sehr hilfloses Gefühl.

Es war, als würde mein Körper langsam seine Verbindung zu mir verlieren, und ich fühlte mich oft schuldig, als würde ich meiner Umwelt nicht mehr gerecht werden.

Wie lange hat es gedauert, bis du die Diagnose Myasthenia gravis bekommen hast, und was müsste sich ändern, damit die Krankheit schneller erkannt wird?

Es hat über fünf Jahre gedauert, bis ich die Diagnose erhalten habe. In dieser Zeit bin ich von Arzt zu Arzt gegangen. Viele hielten meine Beschwerden für psychisch bedingt. Manche empfahlen mir, mich mehr auszuruhen oder einfach abzuschalten. Ich fühlte mich oft nicht ernst genommen und manchmal sogar als Hypochonder abgestempelt. Es war eine sehr belastende Zeit, weil ich wusste, dass etwas mit mir nicht stimmte, aber niemand fand die Ursache. Erst durch einen Zufall wurde ich in einer neurologischen Ambulanz richtig untersucht. Es folgten ein Bluttest und eine Untersuchung meiner Muskelkraft. Dabei stellte sich heraus, dass meine Muskulatur ungewöhnlich schnell ermüdet. Die Diagnose lautete schließlich Myasthenia gravis. Ich war erleichtert, endlich zu wissen, was mit mir los ist, aber auch erschrocken. Plötzlich stand ich vor der Tatsache, mit einer seltenen, chronischen und unheilbaren Krankheit zu leben. Das hat alles verändert. Ich glaube auch, dass die Erkrankung noch viel zu wenig bekannt ist, auch unter Ärztinnen und Ärzten. Deshalb wünsche ich mir mehr Aufklärung im medizinischen Bereich und ein besseres Gespür für seltene Krankheitsbilder. Wenn bestimmte Symptome wie Muskelschwäche, Doppelbilder oder Sprechstörungen auftreten, sollte frühzeitig an Myasthenia gravis gedacht werden. Standardisierte Antikörpertests könnten helfen, die Krankheit früher zu erkennen und Betroffenen viel Leid zu ersparen.

Wie hat sich dein Leben verändert?

In allen Bereichen. Ich musste mein Leben völlig neu organisieren. Früher habe ich alles unter einen Hut bekommen. Heute muss ich meine Kräfte sehr bewusst einteilen. Ich habe gelernt, Pausen zu machen, nicht aus Bequemlichkeit, sondern weil mein Körper sie braucht. Es war schwer, das als Notwendigkeit und nicht als Schwäche zu sehen. Was mich am meisten getroffen hat, war der soziale Rückzug. Viele Menschen verstehen nicht, was es heißt, plötzlich nicht mehr belastbar zu sein. Ein einfaches Treffen mit Freundinnen kann zu viel sein. Ich habe oft abgesagt, nicht weil ich nicht wollte, sondern weil ich es körperlich einfach nicht geschafft habe. Manchmal war mein Gesicht so schwach, dass ich kaum sprechen konnte. Es war mir unangenehm, mich so zu zeigen. Ich nutze mittlerweile für längere Wege einen Rollstuhl. Das hilft mir, überhaupt am Alltag teilzunehmen. Nach einer schweren myasthenen Krise im vergangenen Jahr ist vieles noch komplizierter geworden. Selbst einfache Dinge wie Einkaufen oder der Weg in meine Wohnung im zweiten Stock sind große Herausforderungen. Aktuell kann ich auch nicht mehr arbeiten, was mir sehr fehlt. Ich habe meine Arbeit geliebt. Sie hat mir Struktur gegeben und das Gefühl, gebraucht zu werden. Dazu kommt eine ständige Unsicherheit. Ich weiß nie genau, wie ich mich am nächsten Tag fühlen werde. Manchmal geht es mir morgens gut und ich mache Pläne – nur um am Nachmittag plötzlich so schwach zu sein, dass ich nicht mehr aufstehen kann. Diese Unberechenbarkeit macht es schwer, mein Leben zu gestalten oder langfristig zu planen. Ich vermisse es, spontan zu sein. Ich vermisse meine alte Energie, meine alte Unabhängigkeit.

Wie sieht deine Therapie aus und wie beeinflusst sie deinen Alltag?

Ich nehme mehrere Medikamente, die meinem Körper helfen sollen, die Signalübertragung zwischen Nerven und Muskeln zu verbessern. Die Wirkung ist nicht immer vorhersehbar. Es ist ein ständiges Austarieren und Anpassen. Manchmal habe ich das Gefühl, ständig an mir herumzuexperimentieren. Die Medikamente haben auch Nebenwirkungen. Ich bin häufig müde oder habe Kreislaufprobleme. Trotzdem bin ich dankbar, dass es überhaupt Behandlungsmöglichkeiten gibt. Die Therapie ist zu einem festen Bestandteil meines Lebens geworden. Ich plane meinen Alltag rund um die Einnahmezeiten. Ich versuche, auf meinen Körper zu hören und seine Grenzen zu respektieren. Das ist nicht immer einfach. Es gibt Tage, an denen ich mir wünsche, einfach mal ganz normal zu funktionieren. Aber ich weiß, dass ich achtsam mit mir umgehen muss. Jeder kleine Fortschritt, jede Phase mit etwas mehr Energie ist ein Erfolg. Ich habe gelernt, mich über die kleinen Dinge zu freuen. Zusätzlich bekomme ich regelmäßig Infusionen, die mein Immunsystem beeinflussen. Auch das ist mit Aufwand verbunden. Ich muss zu Terminen ins Krankenhaus oder in die Tagesklinik, und verliere damit oft den ganzen Tag. Aber es lohnt sich, wenn ich dadurch ein bisschen mehr Kraft gewinne. Ich habe gelernt, meine Erwartungen zu dämpfen und kleine Verbesserungen zu feiern, statt einem Idealbild hinterherzulaufen.


Manchmal reicht ein ehrliches Gespräch, um sich wieder aufzurichten. Jeder kleine Lichtblick zählt. Und auch wenn der Weg schwer ist – du gehst ihn, Tag für Tag. Das allein ist schon ein Zeichen von unglaublicher Stärke.

Was möchtest du anderen mit auf den Weg geben, die gerade erst mit einer seltenen Erkrankung leben lernen?

Du bist nicht allein. Auch wenn du dich manchmal so fühlst. Es gibt andere, die dich verstehen, selbst wenn sie vielleicht nicht in deinem direkten Umfeld sind. Es ist okay, nicht zu funktionieren. Es ist in Ordnung, traurig oder überfordert zu sein. Das macht dich nicht schwach. Du bist nicht zu empfindlich. Du bist auch nicht falsch. Du bist genau richtig, so wie du bist. Ich wünsche mir mehr Verständnis und Offenheit für Menschen mit chronischen Erkrankungen. Unsere Geschichten sind nicht immer laut, aber sie sind wichtig. Wenn ich eines gelernt habe, dann, dass es Mut braucht, sich verletzlich zu zeigen. Und dass echte Stärke nicht darin liegt, alles zu schaffen, sondern darin, sich selbst zu akzeptieren – mit allem, was dazugehört. Außerdem ist es wichtig, sich Unterstützung zu holen. Ob durch Selbsthilfegruppen, Online-Communities oder therapeutische Begleitung – niemand sollte diesen Weg allein gehen müssen. Für mich war der Austausch mit anderen Betroffenen ein Wendepunkt. Zu sehen, dass andere ähnliche Herausforderungen meistern, hat mir Hoffnung gegeben. Es hat mir gezeigt: Ich bin nicht die Einzige. Und das verändert alles. Manchmal reicht ein ehrliches Gespräch, um sich wieder aufzurichten. Jeder kleine Lichtblick zählt. Und auch wenn der Weg schwer ist – du gehst ihn, Tag für Tag. Das allein ist schon ein Zeichen von unglaublicher Stärke.

Das Interview führte Leonie Zell

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