Laut der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft leiden zehn bis 15 Prozent der Deutschen an Migräne. Für viele Betroffene können die Attacken aber so schwerwiegend sein, dass sie ihren Alltag nicht mehr bestreiten können. Ein Baustein der Migränetherapie ist die passende Ernährung. Die Neurologin Dr. Astrid Gendolla erklärt, welche Rolle der Energiestoffwechsel und der Blutzuckerspiegel dabei spielen.
Frau Dr. Gendolla, welchen Einfluss hat die Ernährung auf die Entstehung von Migräneattacken?
Der Lebensstil und die Ernährung spielen für Menschen mit Migräne eine enorme Rolle. Das bedeutet nicht, dass ganz bestimmte Lebensmittel immer Migräne auslösen und andere nicht. Ich kann von vielen Patienten berichten, die ihr Leben lang auf Käse, Rotwein, Weizen und all die Lebensmittel verzichtet haben, die so oft für Migräne verantwortlich gemacht werden. Migräne haben sie dennoch weiterhin. Ausschlaggebend für eine erfolgreiche Vorbeugung von Migräneattacken über die Ernährung ist, dass jeder Betroffene individuell betrachtet wird.
Wie nimmt die Ernährung Einfluss auf die Migräne Betroffener?
Das Gehirn versteht keinen Spaß, wenn es um Energiedefizite geht, denn im Unterschied zu anderen Organen kann es Energie nicht speichern. Also hat es die Evolution so eingerichtet, dass unser Gehirn das Vorrecht auf den Blutzucker als Energiequelle beanspruchen darf, der nach der Verdauung im Kreislauf zirkuliert. Um einen Mangel an Blutzucker frühzeitig zu erkennen, orientiert sich das Gehirn daran, wie stark der Gehalt des Blutzuckers schwankt. Bei Migränebetroffenen reagiert ihr Gehirn jedoch so extrem auf Blutzuckerschwankungen, dass es den ganzen Körper über die Migräneattacke in einen Energiesparmodus zwingt.
Wie kommt es, dass Lebensmittel, die Migräne triggern, von Patient zu Patient unterschiedlich sind?
Auch das hat mit dem Energiestoffwechsel zu tun, denn unsere Blutzuckerreaktionen sind individuell unterschiedlich, auch wenn wir das Gleiche gegessen haben. Tatsächlich hängt weniger als ein Drittel der Blutzuckerreaktionen vom Lebensmittel ab. Perfiderweise kann sich das im Laufe des Lebens verändern – also dass sie früher etwas gut vertragen haben, was aber später plötzlich zum Migränetrigger wird.
Warum ist es so wichtig, dass Betroffene ihre ganz persönlichen Trigger in der Ernährung identifizieren?
Es gibt zu viele Missverständnisse rund um Migräne und Ernährung, die Menschen dazu bringen, teilweise grundlos auf Genuss zu verzichten. Das liegt daran, dass man Migräneattacken zu sehr auf den Kopfschmerz reduziert. In Wahrheit gibt es Vorbotenphasen, die schon vor dem Einsetzen des Kopfschmerzes beginnen, und diese Phasen gehen mit Heißhunger auf Süßes einher. Deshalb ist aber die Süßigkeit, die der Körper verlangt hat, gar kein Auslöser für den Migränekopfschmerz, sondern der Heißhunger darauf war bereits Teil der Migräneattacke. Migränetriggernde Lebensmittel selbst herauszufinden, führt also oft in die Irre. Aufschluss bringen aber moderne, messdatenbasierte Verfahren, die den Energiestoffwechsel individuell analysieren.
Welche Verfahren sind das?
Migränepatienten können zum Beispiel über die Ermittlung personalisierter Ernährungsempfehlungen ihren Blutzucker stabil und ihr Gehirn bei Laune halten. Dafür bietet sich eine längere Blutzuckermessung mit Ernährungsanalyse an, die Migränepatienten heutzutage auf Rezept zur Verfügung steht. Die Erkenntnisse sorgen für eine bessere Migränekontrolle, erlauben gezielten Genuss und helfen Betroffenen, selbstbestimmt mit ihrer Erkrankung umzugehen – und das abseits von Medikamenten.
Autor: Ulrike Voß
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