Joar Berge und Jürgen Rademacher sind seit Kindertagen von Rindern umgeben: Joar Berge, Autor von „Kühe kuscheln“, findet als Junge in den großen sanftmütigen Tieren einen Ruhepol und Zufluchtsort in einer hektischen Welt und gibt nun neun Rindern und weiteren Tieren einen Ort zum Leben. Jürgen Rademacher wird in einen Milchbetrieb mit 130-jähriger Familientradition geboren und beschließt mit 62 Jahren, diesen in einen Lebenshof für Kühe zu verwandeln. Ihre Erfahrungen haben sie zum Veganismus geführt. Begegnet sind sich die beiden durch zwei Kälber: Wilma und Rosi. Im Interview geben Joar und Jürgen Einblicke in ihre Lebenswege, in die Gefühlswelten der Tiere und Tipps für den Einstieg in die vegane Ernährung.
Sie haben beide aus unterschiedlichen Situationen heraus einen Lebenshof gegründet. Was hat Sie dazu bewogen?
Joar: Für mich waren die beiden Kühe Dagi und Emma ausschlaggebend, die ich 2019 aus einem Milchbetrieb zu mir geholt habe. Sie wurden zu Freundinnen, und ihnen als solche zu begegnen, hat mich und mein Bewusstsein sehr verändert, vor allem auch meinen Blick auf sogenannte „Nutztiere“. Ich konnte in sehr kurzer Zeit intensiv erleben, welchen Unterschied es für ein Tier macht, an einem sicheren Ort zu leben, was es bedeutet, gerettet zu werden – das ändert seine ganze Welt.
Mit dieser Erfahrung ist der Wunsch gewachsen, mehr Tiere aufzunehmen und andere Menschen zu inspirieren. Deshalb habe ich dann 2020 den Lebenshof Odenwald gegründet.
Jürgen: Ich wurde in eine Bauernfamilie geboren und habe mit zwölf Jahren zum ersten Mal eine Kuh gemolken. Die nächsten 50 Jahre, also mein ganzes Leben lang, war ich Milchbauer. Und dann kam da der Punkt, da wollte ich schlichtweg keine überzähligen Kälber oder Kühe, die weniger oder keine Milch mehr geben, mehr zum Schlachter bringen. Viele wissen das ja gar nicht, dass das Töten der Tiere mit der Milchproduktion verknüpft ist. Für die Tiere und mich begann 2022 die Umstellung vom Milchbetrieb zum Lebenshof Lunetal – und ich bin unendlich dankbar dafür, dass ich jetzt die Möglichkeit habe, die Kühe auf meinem Hof alt werden zu lassen.
Ihre beiden Wege haben sich durch zwei Kälber gekreuzt: Wilma und Rosi. Sie wurden auf Jürgens Hof geboren und haben bei Joar ein neues Zuhause gefunden.
Jürgen: Genau, für mich war klar, dass ich die Kälber nicht auf meinem Hof behalten kann. Zum einen, weil ich allein die Versorgung nicht stemmen kann – zum anderen, weil in unserer Gegend fünf Wolfsrudel leben, die durch die Kälber angezogen werden könnten. Das wäre ein Risiko für die gesamte Herde auf der offenen Weide, das ich nicht eingehen möchte.
Joar: Als ich von Jürgens Projekt hörte, war sofort klar: Ich möchte unterstützen und kann zwei Kälber aufnehmen. So kamen dann Wilma und Rosi mit fünf und drei Wochen zu mir.
Joar, stellen Sie uns bitte die beiden vor und erzählen Sie uns, wie es ihnen heute geht.
Gerne. Die beiden sind mittlerweile fünf Monate alt und komplett in die Herde integriert. Zu Beginn waren sie sehr ängstlich und scheu, sie hatten ja auch eine lange Reise bei kalter Witterung hinter sich und waren den direkten Kontakt mit Menschen nicht gewohnt. Wilma hat relativ schnell Vertrauen gefasst. Rosi, die Jüngere, ist schreckhafter und braucht mehr Zeit, bis sie vertraut. Sie hat ein eher zurückhaltendes und vorsichtiges Wesen, Wilma ist definitiv die Wagemutigere von beiden. Mittlerweile sind aber beide sehr verkuschelt. Und sie sind sehr eng befreundet, sind immer Seite an Seite und auch innerhalb der Herde unzertrennlich.
Jürgen, wären Sie heute noch Milchbauer und Wilma und Rosi nicht bei Joar – wo wären die beiden?
Wilma und Rosi wären 14 Tage nach ihrer Geburt in einen Kälbermastbetrieb gekommen. Wo sie landen, ob sie beispielsweise ins Ausland transportiert werden, wäre für mich im System nicht mehr nachvollziehbar.
Als Milchbauer gehörte es zu Ihrem Alltag, Mütter von ihren Kälbern zu trennen und Tiere zum Schlachter zu bringen. Was bedeutet das für die Tiere? Und wie haben Sie sich dabei gefühlt?
Wenn Kühe von ihren Kälbern getrennt werden, rufen sie tagelang nacheinander. Man kann hier wirklich von Trauer sprechen.
Sobald ich wusste, dass eine Kuh gehen muss, hatte ich das im Kopf und im Bauch, das fühlt sich nicht gut an. Und das spüren die Tiere auch, wenn du vor ihnen stehst. Jeder kennt aus den Medien Bilder aus den Schlachthöfen. Die Tiere wollen ja nicht sterben.
Für mich persönlich hat es sich immer so angefühlt, als würde ich etwas Verbotenes tun. Aber das ganze System um dich rum sagt dir, das kann doch gar nicht falsch sein. Und trotzdem hatte ich immer ein schlechtes Gefühl dabei. Dass ich das tun musste, ist eigentlich eine Strafe für mich.
Was Sie erzählen, zeigt, dass Rinder äußerst soziale Wesen und emotional sehr sensibel sind. Haben Sie Situationen erlebt, in denen Ihnen das besonders bewusst wurde?
Joar: Mich hat eine Erfahrung mit Dagi, unserer Herdenchefin, sehr geprägt. Für einen Presseartikel sollten Fotos entstehen, deshalb hatte ich sie aus der Herde geholt. Dagi ist sonst eine sehr gediegene Kuh mit solidem Gemüt, aber in dieser Situation ist sie verzweifelt, da war plötzlich Angst, Wut, Unverständnis. Sie schrie regelrecht nach Emma, ihrer engsten Freundin, und die schrie zurück. Mir ging es gar nicht gut dabei, wir steckten aber schon mittendrin in der Situation. Dann wurde Dagi sehr still, blickte nur noch in Richtung der zurückgelassenen Herde. Und als ich so neben ihr saß und sie bei mir hielt, sah ich, wie sich ihre Augen erst mit Wasser füllten und ihr dann die Tränen herunterliefen. Mein Herz wurde sehr schwer und mir wurde bewusst, was eine Trennung für sie bedeutet, was jeder Weg ins Ungewisse für die Tiere bedeutet, was es heißt, wenn sie gehen müssen. Ich habe Dagi nach dieser Erfahrung nie wieder aus ihrer Herde geholt.
Jürgen: Dass Kühe weinen, habe ich auch erlebt. Vor allem bei ihrer letzten Reise. Wenn Tiere gehen wollen, kann das Sterben eine Erlösung sein. Wenn sie noch nicht gehen wollen, dann halten sie verzweifelt am Leben fest. In solchen Situationen habe ich Kühe weinen sehen.
Jürgen, heute steht das Leben der Kühe im Mittelpunkt Ihres Hofs. Was ist für Sie das Schönste daran?
Für mich ist das Wichtigste und Schönste, dass die Kühe bedingungslos bis zum Lebensende hier in ihrer Herde bleiben dürfen. Und dass es so viele Menschen gibt, die mich dabei unterstützen und das überhaupt möglich machen, zum Beispiel mit Patenschaften.
Joar, dass das Konzept von Lebenshöfen Menschen fasziniert, wird auch auf Ihren Kanälen sichtbar. Sie teilen dort, als Moustache Farmer, Videos und Bilder, die zeigen, wie nahe Ihnen die Tiere sind. Was ist Ihre Botschaft dahinter? Was wollen Sie damit bewegen?
In erster Linie geht es mir darum, ein Privileg – nämlich die Bereicherung, die die Tiere und ich erfahren dürfen – zu teilen. Ich möchte möglichst vielen Menschen von besonderen Wesen erzählen, von ihren Gefühlen, ihren Freuden und Sorgen, ihrem Humor. Und durch die Unterstützung, die wir erhalten, können wir wiederum mehr Tieren ein sicheres Zuhause geben.
Die Rückmeldungen, die ich bei Instagram bekomme, zeigen, dass sich die Menschen von den Videos berührt fühlen und echte Glücksmomente erleben. Viele Follower berichten, dass sie durch diese Erfahrung vegetarisch oder vegan geworden sind. Und genau auf diese persönliche Wirkung setze ich, ohne viele Worte, sodass sich jeder seine eigene Meinung bilden kann.
Diese persönliche Ebene war ja auch für mich ausschlaggebend: Das Zusammenleben mit den Tieren hat meine Beziehung zu ihnen grundlegend verändert. Durch die Tiere selbst wurden so viele Dinge für mich zurechtgerückt. Sie selbst sind für mich der beste Zugang zu Veganismus. Mir wurde so klar: Tieren auf Augenhöhe zu begegnen und gleichzeitig Tierprodukte zu konsumieren, passt für mich nicht zusammen.
Jürgen, Ihr Weg zum Lebenshof hat auch Sie zum Veganismus geführt. Was war für Sie ausschlaggebend?
Für mich spielten neben den Tieren selbst mehrere Faktoren eine Rolle: Geprägt war ich sicherlich von meiner Mutter, die überwiegend vegetarisch für uns gekocht hat. Dann war da aber auch ein Unwohlsein, das mich überkam, wenn ich zum Beispiel nach einer Feier mit Familie und Freunden Fleisch gegessen hatte. Das lag am nächsten Tag richtig schwer im Magen.
Was die gedankliche Auseinandersetzung mit dem Thema Veganismus betrifft, war meine Nichte Amelie ausschlaggebend. Sie war auf der Suche nach einem Hochzeitskleid ohne Seide und musste mir erst mal erklären, warum das für sie wichtig ist. Sie war zu dem Zeitpunkt schon seit Jahren vegan. Wir haben uns dann immer häufiger ausgetauscht und über das Thema gesprochen. Mir hat die Umstellung gesundheitlich sehr gutgetan – verbesserte Werte in meinem Blutbild bestätigen das übrigens.
Vielen Dank für die persönlichen Einblicke. Haben Sie zum Abschluss noch einen Tipp für Menschen, die in ein veganes Leben starten möchten?
Jürgen: Seid geduldig mit euch selbst und nehmt euch die nötige Zeit für die Umstellung. Mir hat es geholfen, mich zu informieren und mich mit all den Zusammenhängen zu beschäftigen, in denen das Thema Veganismus steht – zum Beispiel auch die Auswirkungen auf Umwelt und Gesundheit.
Joar: Mein Tipp: Gehe mit offenem Herzen auf Tiere zu und lerne sie persönlich kennen. Steig in ihre Welt ein, dann erkennst du sehr schnell ihre Persönlichkeiten. Und sobald da jemand und nicht mehr etwas vor dir steht, wird sich dein Bewusstsein auf ganz natürliche Weise verändern.