Das Rett-Syndrom ist eine seltene neurologische Entwicklungsstörung und genetische Störung, die fast nur Mädchen betrifft. Jungen sind selten betroffen. Das Rett-Syndrom wird durch eine Mutation eines oder mehrerer Gene verursacht, die für die Entwicklung des Gehirns erforderlich sind.
Wenn ein Mädchen plötzlich nicht mehr laufen, sprechen oder greifen kann, könnte das am Rett-Syndrom liegen. Wie bei Lisa. Nachfolgend erzählt ihr Mutter, Petra Römer, Lisas Geschichte.
Lisa kam am 25. Juni 1993 mit 8 Tagen Verspätung mit einem Kaiserschnitt zur Welt. Sie war ein großes und kräftiges Baby, 4780g schwer und 60 Zentimeter groß. Zwei Jahre früher wurde ihre Schwester Johanna mit einem Notkaiserschnitt zur Welt gebracht. Da Lisa sehr groß war und einen großen Kopf hatte (Kopfumfang 38 Zentimeter) entschied ich mich bei ihr für einen Kaiserschnitt mit PDA.
Lisa war der Star auf der Station, der ganze stolz des Stationsarztes – so ein großes Baby!
Lisa war der Star auf der Station, der ganze stolz des Stationsarztes – so ein großes Baby. Lisa wurde gleich nach der OP angelegt, sie trank gut, wurde bis sie fünf Monate alt war gestillt. Lisa hatte von Anfang an starke Blähungen, ich schleppte sie ständig mit mir herum, meistens beruhigte sie sich, wenn sie auf unserem Bauch liegen durfte, mit drei Monaten schrie sie oft, manchmal richtig aggressiv. Sie entwickelte sich sonst aber unauffällig, im vierten Monat fielen bei der U4 eine Muskelhypertonie und eine Schieflage rechts auf, bei der U5 und U6 ergab sich bis auf Makrosomie ein unauffälliger Befund.
Lisas Entwicklung verlief zunächst altersgerecht: So lächelte sie mit etwa sechs Wochen und konnte mit drei bis vier Monaten gezielt greifen.
Lisas Entwicklung verlief zunächst altersgerecht: So lächelte sie mit etwa sechs Wochen und konnte mit drei bis vier Monaten gezielt greifen. Lisa zahnte ganz schlimm, sie hatte viel Schmerzen, als die ersten Zähne da waren, fing Lisa an zu knirschen. Das Drehen und Rollen von Rücken auf den Bauch und umgekehrt gelang mit sechs Monaten. Silbenverdopplung ab etwa sieben bis acht Monaten, jedoch dann über lange Zeit keine weitere Sprachentwicklung.
Im Januar 1995, mit 18 Monaten, lernte sie das Wort „Essen“ und setzte es auch gezielt ein. Ansonsten konnte sie einzelne Wörter echolalieren. Bis heute hat sie zwei Wörter, die sie immer wieder auch gezielt einsetzt, „nein“ und „hallo“. Das alleine Aufsetzen lernte Lisa mit elf Monaten, wir waren gerade aus unserem ersten Türkeiurlaub mit den Kindern zurückgekehrt. Krabbeln lernte sie mit 14 Monaten, das machte sie bis sie zwei Jahre alt war, dann rollte sie sich wieder. Mit 18 Monaten konnte sie an zwei Händen gehalten laufen und stehen, was sie bis heute nicht aufgegeben hat. Sie konnte sich alleine bis zum Kniestand hochziehen. Mit einem Jahr fing sie an lustige Geräusche mit ihrer Zunge zu machen (lakalakalak), sie spielt seit dem immer mit ihrer Zunge, es kommt uns vor als sei die Zunge ein Stück zu lang.
Im Dezember 1994 verlor sie dann zunehmend den Gebrauch der Hände, musste wieder gefüttert werden.
Ende November 1994, ich hatte gerade wieder angefangen in der Apotheke zu arbeiten, begann Lisa mit stereotypen Handbewegungen, wobei sie die rechte Hand in der linken rieb. Bis dahin konnte Lisa alleine essen (z.B. Kekse)
Im Dezember verlor sie dann zunehmend den Gebrauch der Hände, musste wieder gefüttert werden. Sie hatte nur noch Interesse für bestimmte Sachen, Schnürsenkel und die Fransen am Vorhang waren heiß begehrt, mit 14 Monaten als sie krabbeln konnte steckte sie sich immer eine kleine Ente in den Mund. Spielsachen, wie eine elektrische Lego-Eisenbahn wurden von ihr gar nicht beachtet. Dafür war das Muster unserer Couch, sehr interessant, sie saß ständig davor und knetete die Hände.
Er sagte: „Ihr Kind ist nicht normal“
So ab dem Alter von 16 Monaten war ich ständig beim Kinderarzt, wegen den Schreiattacken und dem jetzt angefangenen Handstereotypien, er überwies uns in das Stadtkrankenhaus Hanau. Wir stellten unsere Lisa dem Chefarzt der Kinderklinik vor und das werde ich nie vergessen, es war übrigens kurz vor Weihnachten, er schaute Lisa an und sagte uns auf den Kopf zu,
„Ihr Kind ist nicht normal“.
„Machen sie sich keine Hoffnungen, ihr Kind hat die schlimmste Behinderung, die es gibt!“
Lisa musste also zwischen den Jahren stationär ins Krankenhaus eingewiesen werden ,wo sich dann nach ein paar Untersuchungen, der Chefarzt der Kinderklinik ganz sicher war, das Lisa am frühkindlichen Autismus erkrankt war und uns in einem Abschlussgespräch auch nicht viel Hoffnung machte.
„Machen sie sich keine Hoffnungen, ihr Kind hat die schlimmste Behinderung, die es gibt!“
Ich musste erst ein paar Tage Kraft sammeln um dann den Weg des Suchens erneut zu gehen.
Mit dieser Diagnose und unendlich viel Traurigkeit, eilten wir dann wieder zu unserem Kinderarzt. Er war sich ziemlich sicher, dass Lisa kein Autismus hatte und riet uns sie in der Sprechstunde der Uniklinik in Mainz vorzustellen. Ich musste erst ein paar Tage Kraft sammeln um dann den Weg des Suchens erneut zu gehen. Wir fuhren nach Mainz, wo wir Lisa einer sehr jungen Ärztin vorstellten. Sie konnte uns nichts sagen, sie bat uns Lisa für ein paar Tage stationär einweisen zu lassen. Als ich ihr von der Verdachtsdiagnose „frühkindlicher Autismus“ erzählte, meinte sie, “Ja, das kann auch sein!“
Ich las die Diagnose: Verdacht auf neuromuskuläre Erkrankung, DD Rett-Syndrom.
Im Februar 95 war es dann soweit, Frank, mein Mann ging für fünf Tage mit Lisa in die Uniklinik nach Mainz. Es wurden alle Untersuchungen gemacht, die man in Hanau noch nicht durchgeführt hatte. Freitags durfte ich dann Lisa und ihren Papa wieder abholen. Frank hatte schon den Abschlußbericht in die Hand gedrückt bekommen, als ich kam, lass ich kurz die Diagnose:
Verdacht auf neuromuskuläre Erkrankung, DD Rett-Syndrom.
Ich fragte den Arzt, was das sei, doch er konnte mir leider gar nichts dazu sagen. So sind wir also nach Hause gefahren, wir wussten nicht was die Diagnose bedeutete und ich habe den Brief erstmal ein ganzes Stück bei Seite gelegt.
Eine Welt ist über mir zusammengebrochen.
Als ich montags in die Apotheke kam, fragte mich mein damaliger Chef nach Lisa, ich zeigte ihm den Brief, er schaute im klinischen Wörterbuch nach und stellte es wieder bei Seite. Da dachte ich mir schon, dass dies nichts Gutes heißt. Ich nahm also auch das Buch zur Hand und lass. Da ist über mir die ganze Welt zusammen gebrochen.
Nachmittags waren wir wieder beim Kinderarzt, er lass den Brief und konnte nichts mit dieser Diagnose anfangen, “Rett-Syndrom“, das hatte er noch nie gehört. Ich gab ihm meine Info aus dem klinischen Wörterbuch. Da uns dies nicht weiter brachte, überwies er uns an Herrn. Dr. med. König, Institut für Humangenetik an der Uniklinik in Frankfurt. Zwei Wochen später, das waren so ziemlich die Schlimmsten in meinem bisherigen Leben (diese Ungewissheit), saß ich mit meiner kleinen Lisa im Zimmer von Dr. med. König. Er untersuchte Lisa, und bestätigte die Verdachtsdiagnose Rett-Syndrom. Er konnte mir einiges über das Rett-Syndrom erzählen, er half mir aus meiner großen Angst heraus, er gab mir die Adresse der Elternhilfe.
Von da ab wussten wir, unser Kind hat das Rett-Syndrom, so schlimm, die Diagnose auch war, aber nun wussten wir was unsere Tochter hat, wieso sie schrie und die Hände rieb, sich nicht weiter entwickelte, ja sogar Rückschritte machte.
Wir lernten bald andere Eltern mit Rett-Mädchen kennen und mit jedem Tag kamen wir mit der Situation ein besonderes Kind zu haben, besser zurecht.
Wir nahmen Kontakt mit der Elternhilfe auf, kaum standen wir auf der Mitgliederliste, klingelte das Telefon, da war „unsere Bärbel“ dran, sie habe gesehen, dass wir doch nicht weit voneinander wohnen würden und dass wir uns doch mal treffen könnten. Ja, seitdem sind wir dicke Freunde, wir lernten bald andere Eltern mit Rett-Mädchen kennen und mit jedem Tag kamen wir mit der Situation ein besonderes Kind zu haben, besser zurecht.
Unser Leben hat durch Lisas Behinderung einen sehr positiven Verlauf genommen.
Das liegt jetzt fast zehn Jahre zurück und wir sind froh, dass wir gleich mit der Elternhilfe Kontakt aufgenommen haben, haben wir doch hier so viele Freunde gefunden. Nicht nur wir als Eltern auch unsere Tochter Johanna und unser Sohn Benedikt haben sich dick mit anderen Geschwisterkindern angefreundet. Unser Leben hat durch Lisas Behinderung einen sehr positiven Verlauf genommen.
Oft wissen wir nicht wieso sie traurig ist, dann geht es uns allen nicht gut, wie froh sind wir da, wenn Lisa uns wieder ein Lächeln schenkt.
Lisa wird im Sommer 12 Jahre alt, sie ist ein sehr zufriedenes Kind, sie knirscht immer noch viel mit den Zähnen, sabbert viel, kann an den Händen gehalten gut stehen und laufen, ist sehr aufmerksam geworden. Schreien tut Lisa schon lange nicht mehr, wenn, dann weint sie mit dicken Tränen und dann muss man mit ihr Kuscheln und sie trösten. Oft wissen wir nicht wieso sie traurig ist, dann geht es uns allen nicht gut, wie froh sind wir da, wenn Lisa uns wieder ein Lächeln schenkt. Lisa benutzt in der Schule und zu Hause um sich mitzuteilen zwei Big Step by Step Tasten, die sie von uns besprochen bekommt, damit konnten wir ihre Lebensqualität um einiges erhöhen.
Lisa hat keine Anfälle, das EEG ist unauffällig. Ab und an macht sie sich sehr steif, hat einen hochroten Kopf und ist geschwitzt. Sie macht das in Situationen in denen sie sich nicht wohl fühlt, aber auch, wenn sie mit ihrem Bauch Probleme hat. Manchmal auch um sich besser zu spüren. Lisa ist in unserer Familie das A und O, zu ihren Geschwistern hat sie eine ganz besondere Beziehung. Zu Johanna, ihrer zwei Jahre älteren Schwester, eine sehr intensive, schließlich hat Johanna alles von der Suche bis zur Diagnose miterlebt und auch unsere Traurigkeit, sie möchte Lisa immer beschützen.
Benedikt, Lisas sechs Jahre jüngerer Bruder, weiß genau wie er mit Lisa umzugehen hat, er kann es noch nicht so sagen, aber ich denke er hat sie sehr gerne. Im Sommerurlaub, er war noch keine fünf Jahre alt, hat er mich gefragt, „Wieso ist denn meine Lisa nicht so wie meine Johanna?“, da war mir das erste Mal bewusst, dass er anfängt zu hinterfragen, wieso unsere Lisa behindert ist.
Diese Zeilen habe ich schon vor 17 Jahren geschrieben. Heute ist Lisa 29 Jahre alt, lebt bei uns zu Hause und geht tagsüber in die Tagesförderstätte ins Hainbachtal. Sie hat einen Computer mit Augensteuerung und kann sich damit mitteilen. Das klappt leider nicht immer. Aber sie versteht fast alles.
Diesen Artikel hat Petra Römer geschrieben.
Petra Römer ist 1.Vorsitzende
des Verbandes Rett-Syndrom Südwest e.V.
Weitere Informationen:
www.rett-syndrom-suedwest.de