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Leben im Hungermodus: Wer hilft den Kindern?

Junge mit Bardet Biedl Syndrom

Liegt es an zu wenig Bewegung und einseitiger, ungesunder Ernährung … ? Der Anblick übergewichtiger Kinder provoziert, eine Veränderung des Lebensstils scheint als Lösung einfach. Wenn jedoch bereits Einjährige an Hyperphagie und massivem Übergewicht leiden, wenn weder Diäten noch OPs den Kindern helfen, sind Eltern und Betroffene verzweifelt und sogar Ärzte fassungslos.

Menschen mit schwerem Übergewicht leiden – unter der gesundheitlichen Beeinträchtigung und den Stigmata. Für Kinder mit Hyperphagie gilt das umso mehr. Was ist das für ein Leben, wenn sich alles nur ums Essen dreht?

Schuld sind die Gene

Adipositas kann viele verschiedene Ursachen haben – auch eine seltene Erkrankung wie das genetisch bedingte Bardet-Biedl-Syndrom (BBS), an das vielleicht zunächst keiner denkt. Bei BBS weisen Teile der Körperzellen eine Fehlfunktion auf. Die Erkrankung kann sich in einer Vielzahl von Symptomen äußern, die nicht unbedingt zusammen auftreten; auch ihre Ausprägung kann jeweils sehr unterschiedlich sein. Neben dem genetisch bedingten Übergewicht können dies folgende sein: Sehstörungen, die häufig im Kindesalter auffallen und meist zur vollständigen Erblindung führen, Nierenfunktionsstörungen, Polydaktylie (überzählige Finger und/oder Zehen), Hypogonadismus (Unterentwicklung der Geschlechtsorgane), Entwicklungsverzögerungen und Verhaltens-
auffälligkeiten.

Hyperphagie – unstillbarer Hunger

Eines der Hauptsymptome dieser Erbkrankheit ist Hyperphagie, unstillbarer Hunger. Spätestens wenn Kinder unter diesem Symptom leiden, sollten Ärzte und Angehörige sehr genau hinsehen. Der klangvolle lateinische Begriff lässt dabei das ganze Ausmaß des Leids kaum erahnen. Kinder mit Hyperphagie haben permanent das Gefühl, zu verhungern. Die Betroffenen befinden sich in einem Dauerzustand existenzieller Not.

Eine Hyperphagie äußert sich in der zwanghaften Beschäftigung mit und einem übermäßigen Verlangen nach Essen. Betroffene sind ständig auf der Suche nach Nahrung. Nächtliche Heißhungerattacken stören Schlaf und familiären Frieden und durch die enorm kurzen Sättigungsperioden dreht sich der gesamte Tagesablauf aller Familienmitglieder bald nur noch ums Essen. Konflikte zu Hause sind vorprogrammiert – auch in Kindergarten oder Schule und weit darüber hinaus.

Enormer Leidensdruck

Dieser Zustand ist extrem belastend. Die Betroffenen selbst, auch Geschwister und Eltern leiden sehr. Viele berichten von extremen Einschränkungen im Alltag und von ihrer schieren Verzweiflung, weil nichts ihren Kindern zu helfen scheint. Niemand scheint zu wissen, was ihnen fehlt.

Der Alltag wird sehr stark dadurch bestimmt, dass unsere Tochter in sehr kurzen Abständen Essen einfordert.

Eltern bemühen sich um Fassung, wenn sie vom Martyrium der Familien berichten. Als besondere Belastung wird oft das permanente Hungergefühl der Kinder genannt. „Der Alltag wird sehr stark dadurch bestimmt, dass unsere Tochter in sehr kurzen Abständen Essen einfordert“, sagt der Vater eines BBS-betroffenen einjährigen Kindes. Die permanente Sorge und auch den massiven Schlafmangel sieht man ihm an.

Gestörtes Sättigungssignal

Die Adipositas durch Hyperphagie bei BBS beginnt meist schon im frühesten Kindesalter. Fatal: Bei Betroffenen ist die Übermittlung des Sättigungssignals ans Gehirn durch eine genetische Mutation gestört. Kuren, Diäten oder mehr Bewegung helfen nicht. Auch eine bariatrische OP, die sonst bei Adipositas zuverlässig helfen kann, ist bei BBS in der Regel erfolglos.

Bardet-Biedl-Syndrom: Langer Weg zur Diagnose

Wir haben zwei Kinder mit BBS, die schon im Säuglingsalter Symptome zeigten.

Um zu helfen, muss man wissen, womit man es zu tun hat. Und hier fängt meist das Debakel an. „Wir haben zwei Kinder mit BBS, die schon im Säuglingsalter Symptome zeigten“, berichtet eine Mutter. „Bis zur Diagnose haben wir unzählige Ärzte und Kliniken konsultiert. Kinderärzte, Kinderkliniken, Neurologisches Zentrum, Humangenetik, drei verschiedene Augenkliniken, mehrere niedergelassene Augenärzte …“ Familien müssen Termin um Termin wahrnehmen, unzählige Untersuchungen über sich ergehen lassen, bis feststeht, was die Ursache ist. Ein enormer Aufwand, zeitlich und finanziell.

BBS: Seltene Erbkrankheit

Was macht es so schwer, die richtige Diagnose zu stellen? Zum einen hat das Bardet-Biedl-Syndrom viele Gesichter. BBS kann diverse Organsysteme betreffen, mit jeweils unterschiedlich starker Ausprägung. Auch entwickeln sich die Symptome oft erst über längere Zeit. Zum anderen spielt die Häufigkeit eine Rolle. Selbst wenn von einer höheren Dunkelziffer auszugehen ist, sind deutschlandweit offiziell nur 300 an BBS Erkrankte bekannt, berichtet Dr. med. Metin Cetiner, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Essen und einer der wenigen deutschen Experten für BBS. Das erklärt, warum Ärzte selten auch an BBS denken, wenn ein adipöses Kind in ihre Sprechstunde kommt.

Umso wichtiger ist es, dass Fachärzte für Humangenetik in den klinischen Alltag mit einbezogen werden, dass genetische Sprechstunden wahrgenommen werden, dass Patienten zur genetischen Sprechstunde geschickt werden.

Hinzu kommt, dass eine Diagnosesicherung mithilfe genetischer Tests erfolgen muss. Zwar nehmen Gentests eine wachsende Rolle in der klinischen Medizin ein, „die Genetik wird jedoch oft als etwas kompliziert wahrgenommen“, so Prof. Dr. med. Carsten Bergmann von der Medizinischen Genetik Mainz. „Umso wichtiger ist es, dass Fachärzte für Humangenetik in den klinischen Alltag mit einbezogen werden, dass genetische Sprechstunden wahrgenommen werden, dass Patienten zur genetischen Sprechstunde geschickt werden.“ Nur so können Sachverhalte geklärt und detailliert erläutert werden. Auch lässt sich in diesem Rahmen besser auf Patienten und ihre Angehörigen eingehen; viele Fragen lassen sich hier klären.

Verantwortliche Gene identifiziert

Es gibt sehr viele Gene verschiedener Erbanlagen, die für das Bardet-Biedl-Syndrom infrage kommen. Es ist gelungen, über 20 dieser Gene zu identifizieren. Früher musste für die Analyse eines Gens jeweils ein Test durchgeführt werden. „Die heutigen Techniken lassen es zu, dass wir mehrere Gene parallel betrachten können“, berichtet Prof. Bergman.

Die Medizin macht insgesamt gute Fortschritte. In den letzten Jahren hat man viel über die beteiligten Gene der Erbkrankheit und die von ihr verursachten Fehlfunktionen herausgefunden. Ein großes Glück, denn dies ermöglicht Therapien.

Bardet-Biedl-Syndrom: Therapie ist möglich

Mittlerweile gibt es heute eine kausale Therapie zur Kontrolle des Hungergefühls und zur Behandlungsmöglichkeit von Fettleibigkeit bei einigen genetisch bedingten Erkrankungen, auch bei BBS. Der Wirkstoff kann das Leid der Betroffenen und Angehörigen lindern. Das Hungergefühl kann reduziert, die Kalorienaufnahme verringert werden. Kinder denken nicht mehr nur ans Essen, sondern auch ans Spielen, knüpfen Freundschaften, Eltern atmen auf. Ein Stück Lebensqualität – unendlich kostbar für betroffene Familien.

Weitere Informationen zum Krankheitsbild des Bardet-Biedl-Syndroms finden Sie bei der Patientenvereinigung PRO RETINA e. V. unter: www.pro-retina.de und in folgenden Videos: 

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